Chișinău in Moldawien:Europas kleine Unbekannte

Chișinău, Moldawien

Chișinău aus der Luft betrachtet - berühmte Orientierungspunkte fehlen.

(Foto: Videologia / iStockphoto.com)

Chiși ... was? Chiși ... wo? Die Hauptstadt der Republik Moldau wird auf Reisen meist links liegen gelassen. Dabei bietet das Mauerblümchen Europas dem Besucher allerlei Überraschungen. Ein Besuch.

Von Irene Helmes, Chișinău

Die Plattenbauten wirken selbst auf Papier riesig, graue Betonhaufen aus einer vergangenen Zeit. Die Tore von Chișinău werden sie genannt. Sie zieren eine Plakatwand mitten in der Hauptstadt der Republik Moldau. Was ist das für eine Stadt, in der die heimische Biermarke mit den prägnantesten Plattenbauten am Ort wirbt? Eine "zum Abgewöhnen", wie ein entnervter Besucher geschrieben hat? Eine, die man getrost überspringen kann, wie das fehlende Regalfach für Moldau in den meisten Reisebuchabteilungen nahelegt?

Wer sich in Chișinău (gesprochen: Kischinau) wiederfindet, sei es auf Entdeckungsreise durch die Region oder beruflich, kann auch einfach die Augen aufmachen - es wird sich lohnen. Die erste Überraschung könnte sein: Ganz schön grün hier. Denn diese Stadt ist stolz auf ihre Parks, etwa Valea Morilor ("Tal der Mühlen"), in dem vor wenigen Jahren Mammut-Skelette gefunden wurden oder La Izvor, der zur Zeit des Kommunismus als "Park der Völkerfreundschaft" angelegt wurde. Oder den 200 Jahre alten Ștefan cel Mare Park, der wegen seiner Dichterbüste in der "Allee der Klassiker" auch Puschkin-Park heißt.

Wer neben den Augen auch noch die Ohren offenhält, hört in Chișinău zur Abwechslung mal nicht das übliche Sprachengewirr einer internationalen Touristenschar. Er hört moldauisches Rumänisch und Russisch, eine Mischung, die sich aus der turbulenten Geschichte des Landes ergibt. Nicht weit von der Allee der Klassiker ist ein genauerer Blick in diese Vergangenheit möglich - im Nationalmuseum für Archäologie und Geschichte.

Daneben klackern Ping-Pong-Bälle

Mehr als 320 000 Exponate zeigen, was das kleine Land von der Gründungslegende im Mittelalter über osmanische, russische und rumänische Herrschaftsphasen bis hin zur Zeit als Sowjetrepublik durchlebt und durchlitten hat. An der Darstellung eines der blutigsten Momente haben zwei Künstler acht Jahre lang gearbeitet: Eine dreidimensionale Installation zeigt auf 800 Quadratmetern eine Schlacht zwischen sowjetischen und deutschen Truppen 1944. Die Damen an der Kasse winken Besucher, die den Eingang zum Diorama übersehen, so freundlich wie unerbittlich herein. Im Keller darunter bedrückt eine Schau zum System der Gulags. Hinter einer Wand klackern Ping-Pong-Bälle aus einem Pausenraum des Personals.

Wer nicht ins nächste Museum weiterwandert, etwa ins Nationale Kunstmuseum, findet schöne Gebäude aus dem späten 19. Jahrhundert im Botschaftsviertel, teils versteckt hinter alten Bäumen. Manche sind nur noch Fassade neben von Schlaglöchern zerfurchten Straßen, aus ihnen ragen Sträucher. Anderswo im Zentrum recken sich vereinzelt moderne Glas- und Stahltürme in die Sonne. Es ist eine seltsame Mischung in Chișinău, die aber zu dem kleinen Land passt, das sich seit seiner Unabhängigkeit 1991 zwischen der EU und Russland zurechtfinden muss und momentan deutlich nach Westen neigt. Mit weniger als vier Millionen Einwohnern wird Moldau international oft ignoriert, wegen des ungelösten Konflikts in der Region Transnistrien, wegen seiner Armut und seiner Auswanderer mal misstrauisch, mal mitleidig beäugt.

Es kann nicht leicht für diese Stadt, für dieses Land sein, sich Besuchern selbstbewusst zu präsentieren, und doch wirkt das Mauerblümchen Chișinău tapfer.

Triumphal Arch and the Cathedral, Chisinau

Kirche und Triumphbogen am Boulevard Ștefan cel Mare.

(Foto: nyiragongo - Fotolia)

Der Boulevard Ștefan cel Mare, der die Innenstadt durchzieht, ist gesäumt von allerlei Sehenswürdigkeiten - einer Statue des Namenspatrons des Boulevards, dem Triumphbogen oder den goldenen Kuppeln der Kathedrale Sf. Mare Mucenic Teodor Tiron. Es ist nur wenig Fantasie nötig, um sich die Paraden vorzustellen, die hier früher unter wechselnden Bannern abgehalten wurden. Jetzt sind überall kleine Kaffeestände aufgebaut, immer wieder blitzen bunte Plakate auf, Chișinău erfreut seine 700 000 Einwohner ab und an mit Kulturereignissen wie der "Nacht der Museen". Von der eigentlich unvermeidlich gewordenen Standard-Shoppingmeile mit H&M, Burger King und Saturn fehlt dagegen jede Spur.

Ein Moment Bangkok

Dafür gibt es das UNIC. Das fünfstöckige Kaufhaus wurde in der kommunistischen Ära errichtet und hat sie überdauert, ohne sich der Gegenwart erkennbar anzupassen. Drinnen riecht es nach Gummi und synthetischen Stoffen, Verkäuferinnen langweilen sich, aber an der Fassade prangt ein nagelneuer Außenlift, der die wenigen Kunden fast lautlos in vergangene Jahrzehnte hievt und dann wieder auf dem Vorplatz ausspuckt. Das große Getümmel herrscht nur wenige Ecken weiter am Hauptmarkt, der Piața centrală. In dem Gewirr aus Gässchen, Hallen und Hunderten Ständen, zwischen Einkaufstaschen mit Disney-Motiven, endlosen Stapeln Geschirr, Ersatzbatterien und Lebensmitteln, zwischen Ramsch und kleinen Entdeckungen erinnert alles einen Moment an den Chatuchak-Markt in Bangkok. Und siehe da, die Schuhe sind tatsächlich "Made in Thailand".

Die Sympathie für eine Stadt wächst wie so oft besonders beim Essen und Trinken. Auch wenn die Republik Moldau dem 20. Jahrhundert nur sehr eingeschränkt nachtrauert, herrscht in der Gastronomie ein Trend zur Nostalgie: Restaurants wie das 24 Stunden geöffnete Eli Pili (zu deutsch "Wir haben gegessen, getrunken") sind detailverliebt mit altem Krimskrams dekoriert oder zeigen wie das Propaganda schon im Namen historische Selbstironie. Das typische Essen ist rustikal - Fleisch, Käse, Gemüse -, gut und ohne Schnickschnack. Auch das MamiCo ist im Retrostil gehalten, bietet dazu aber noch eine fast mediterrane Terrasse in einer hübschen Seitenstraße. Was überall auf der Karte steht: heimischer Wein. Moldau ist ein Land der Winzer, die heißen Sommer bringen beliebte Sorten wie den Negrul de Purcari hervor und sichern so ein Viertel von Moldaus Arbeitsplätzen. Das schier endlose Weinlager Mileștii Mici nahe der Hauptstadt wurde 2007 sogar ins Guinness Buch der Rekorde aufgenommen.

Kompott und Felsenklöster

Dass es in Moldau sehr wohl Erfolgsgeschichten gibt, zeigt auch die einheimische Restaurantkette La Placinte. Fast ein Dutzend Filialen hat sie mittlerweile allein in der Hauptstadt und schafft erstaunlich gut den Spagat zwischen unkitschiger Folklore und von Einheimischen empfohlener Küche. Serviert werden neben typischen herzhaften oder süßen Blätterteiggerichten wunderbare Krautwickel im Tontöpfchen und natürlich das unvermeidliche "Kompott", ein Eistee-ähnliches hausgemachtes Getränk. Wer das Geld dafür aufbringen kann, genießt im nobleren armenischen Sarkis zu europäischen Preisen auf einer Terrasse direkt am Dendrarium-Park Fleisch und Gemüse vom offenen Sommergrill, danach getrocknete Früchte und Tee aus der Region.

Ein für Touristen aufpoliertes Nachtleben hat Chișinău nicht zu bieten. Doch auch hier lohnt es sich, auszuprobieren: Manch einer, der aus dem Lästern über den Ausverkauf Berliner Clubs nicht mehr herauskommt, könnte sich zum Beispiel über das Tipografia 5 freuen, wo man sogar 2014 noch ohne Hipster-Overkill in verlassenen Hallen mit Blick über die Lichter der Stadt tanzen kann.

Chișinău in Moldawien: Orheiul Vechi, ein Ausflugsziel nordöstlich von Chișinău

Orheiul Vechi, ein Ausflugsziel nordöstlich von Chișinău

(Foto: spvvk - Fotolia)

Auch in den grünen Hügeln außerhalb Chișinăus warten Kontraste. Auf zerbröckelnde und halbverlassene Dörfer folgen malerische Klöster. Wer gerade noch überlegt hat, ob da hinter einer hohen Mauer wirklich Männer in offenen Fenstervorsprüngen gekauert und gewunken haben (die einheimische Freundin sagt: ja, das sei ein Gefängnis), ist eine Biegung weiter schon durch leuchtend blau lackierte Zäune und Fensterläden abgelenkt. Bei Orheiul Vechi, etwa 60 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt, zeigt sich, was die Zukunft des Tourismus in Moldau sein könnte: Idyllische Natur und jede Menge Geschichte. Im 13. Jahrhundert haben orthodoxe Einsiedler ein Felsenkloster in die Sandsteinwände des Raut-Tals gehauen, es gibt archäologische Funde aus der Zeit der Mongolen zu bewundern. Im Dorf Butuceni haben die Einwohner einige Häuschen renoviert und setzen auf eine hübsche Mischung aus Tradition und Öko-Tourismus.

Auf der Rückfahrt prangt rechts schließlich ein riesiges Logo von Chișinău neben der Einfallstraße. Ja, es ist aus Beton, ja, es ist grau. Doch die Rückkehrer wissen inzwischen, dass dahinter mehr wartet als nur Grau. Vielleicht braucht das Mauerblümchen unter den europäischen Hauptstädten nur noch etwas, um aufzublühen.

Linktipp: Aus einem Projekt einheimischer Studierender ist ein Moldau-Kulturreiseführer "aus erster Hand" entstanden - auf Deutsch.

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