Debatte um G 8 und G 9:"Die Sachsen schaffen das doch auch!"

Eine Rückkehr zu G 9? In Sachsen und Thüringen keine Option, hier ist das achtjährige Gymnasium etabliert. Und mehr noch: Mancher hiesige Bildungsexperte kritisiert die Reform der Reform im Westen als "Gefälligkeitspolitik gegenüber den Eltern".

Von Cornelius Pollmer

Wolfgang Nowak, 71, kommt gerade aus Peking, er übersendet "noch müde Grüße", aber als man ihn einen Tag später am Telefon spricht, da wirkt er hellwach und zumindest gedanklich scheint er jene Reiseflughöhe noch nicht verlassen zu haben, aus welcher einem die deutsche Diskussion um G 8 und G 9 ziemlich klein vorkommen muss. Nach der Wiedervereinigung hatte Nowak als Staatssekretär im Kultusministerium die Einführung des achtjährigen Gymnasiums (G 8) in Sachsen vorangetrieben, über diese Zeit wollte man nun mit ihm reden, aber Nowak erläutert zunächst das "große Erstaunen", mit dem er die Debatten um die Wiedereinführung des neunjährigen Gymnasiums in den alten Bundesländern derzeit verfolge.

Was dort geschehe, sagt Nowak, das sei "eine Gefälligkeitspolitik gegenüber den Eltern. Dadurch macht man das Gymnasium zu einer Art schlechter Gesamtschule mit billigem Abschluss und billigen Leistungen". Darunter zu leiden hätten letztlich die Schüler, "deren Zukunft wird damit veruntreut, denn nach der Schule entlässt man sie doch so oder so in die internationale Konkurrenz".

Soll heißen: lieber ein bisschen früher den Druck erhöhen, dann fällt der Übergang etwa zum Studium hinterher nicht so schwer. Nur, ist der Druck nicht selbst im G 9 schon hoch genug? "Ach", sagt Nowak, "in Süddeutschland gibt es eben die ganzen Oberschichtenkinder, die Tennis spielen und wo die Eltern dann Zeit haben, sich in der Süddeutschen oder im Spiegel zu beklagen, wie brutal die Anforderungen sind. Die Sachsen schaffen das doch auch!"

Der Vorsatz Turbo? Überflüssig

Nowak beschreibt damit eine Haltung, die in Sachsen und Thüringen weitverbreitet ist: Wir schaffen das doch auch. Das G 8 gilt hier als selbstverständlich, der Vorsatz Turbo? Überflüssig.

Elite-Gymnasium

Ostdeutsche Gymnasiasten schneiden trotz G8 gut in Vergleichstests ab: Schüler des Carl-Zeiss-Gymnasiums in Jena.

(Foto: Peter Hirth / transit)

Zwar gingen nach der Wiedervereinigung Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg wegen der hohen Wochenstunden-Vorgaben der Kultusministerkonferenz peu à peu zum neunjährigen Abitur über, Sachsen und Thüringen aber blieben bei den acht Jahren, in denen die Schüler schon zu DDR-Zeiten zum Abitur geführt worden waren.

Überliefert ist aus dieser Zeit eine dramatische Sitzung der KMK, in der der Freistaat Sachsen damit drohte, diese zu verlassen, sollte ihm die Beibehaltung des alten Systems nicht zugestanden werden. Wer sprach die Drohung aus? "Das war ich!", sagt Nowak fröhlich. Er hatte zuvor als Bildungspolitiker in Nordrhein-Westfalen gewirkt, und ihn habe in den Jahren nach dem Mauerfall die Behauptung gestört, "dass alles vom Joghurt bis zum Abitur im Westen besser sei und von dort übernommen werden müsse".

Heute gibt es vor allem Stolz

Hohe Wochenstundenzahl bei gleichbleibender Schulzeit - war das richtig? Aus Nowaks Sicht schon deswegen, weil Schüler und Lehrer besonders angespornt gewesen seien. Die Jugend, "das war keine Generation von Erben, da waren Schüler, die wussten, dass Leistung ihre Eintrittskarte in eine bessere Zukunft ist und die haben sie dann erbracht." Und die Lehrer, "die waren viel engagierter, die wollten beweisen, dass sie es können."

Hinzu kommt, dass die meisten Schulen ohnehin für längere Tage ausgelegt waren, wie sich Roul Rommeiß von der Landeselternvertretung in Thüringen erinnert. "Eine Mittagsversorgung war immer schon Bestandteil der schulischen Infrastruktur, sicherlich in unterschiedlicher Qualität", sagt er, weil oft beide Eltern arbeiteten, sei Nachmittags-Betreuung zu Hause nicht üblich gewesen. In den Neunzigern gab es durchaus auch die Sorge, ob das Pensum nicht zu hoch sei für die kürzere Schulzeit, doch heute gibt es in Sachsen und Thüringen vor allem Stolz.

Eva-Maria Stange erkennt in diesem Stolz auf das G-8-Abitur auch eine "Abwehrhaltung dagegen, dass der Osten immer schlechter sein soll". Das wurde ihm ja erfolgreich eingeredet, Anfang der Neunziger; und das schnelle Abitur in Kombination mit dem oft guten Abschneiden in Vergleichsstudien, das balsamierte. Stange, die sowohl SPD-Wissenschaftsministerin in Sachsen als auch Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft war, kann mit diesem Stolz allerdings nicht viel anfangen, "am Ende zählt doch, ob unsere Schüler bestehen können, wenn sie in das Studium hineingehen".

"Wir machen aus der Frage G 8 oder G 9 eine heilige Kuh"

Im Übrigen könne man den Erfolgsmeldungen aus Sachsen und Thüringen auch andere Zahlen entgegenstellen: Etwa zehn Prozent aller Schüler beenden ihre Laufbahn ohne Abschluss, ein noch höherer Anteil der Gymnasiasten "holt sich sein 13. Jahr" durch das - überwiegend freiwillige - Wiederholen des elften Schuljahres.

Was Stange, Nowak und Rommeiß gemeinsam haben, das ist die Ansicht, dass es im Kern ohnehin nicht um die Anzahl der Jahre bis zum Abitur geht, sondern darum, wie man den Lehrplan klüger gestaltet. "Wir machen aus der Frage G 8 oder G 9 eine heilige Kuh, dabei ist sie das gar nicht", sagte Stange. Vor ein paar Wochen hat sie deswegen mit anderen Bildungsexperten einen Aufruf gezeichnet, der sich gegen eine bloße Aus-Prinzip-Rückkehr zu G 9 richtet. Die Frage sei, was Schule leisten soll, und da habe man auch im Osten dazugelernt.

"In den neuen Ländern gab es nach der Wende den schönen Spruch: Im Westen brauchen sie 13 Jahre fürs Abitur, weil sie noch ein Jahr lang Theater spielen müssen", sagt Stange. Heute allerdings sei sie "sehr überzeugt davon, dass das Theaterspiel ganz wichtig ist für die Selbstbildung der Kinder".

Kommt die Persönlichkeitsbildung bei G 8 im Osten zu kurz? "Das Argument kann man beschränkt gelten lassen", sagt Tom Beyer, 17 Jahre alte, Leistungskurse Mathe und Chemie an einem Gymnasium in Leipzig, aber, sagt er: Man könne dafür ja auch das Jahr nutzen, das man durch das G 8 gewinne. Beyer etwa will ein freiwilliges soziales Jahr im Ausland einlegen.

Wenn er sich für seine Schulzeit noch etwas wünschen dürfte, dann denkt er nicht an die Frage G 8 oder G 9. Beyer denkt dann eher an die Bildungspolitik in Sachsen. Er habe nicht das Gefühl, mehr Zeit zu brauchen - "wir haben ganz andere Probleme: Wir bräuchten eher mehr Lehrer."

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