Münchner Neueste Nachrichten vom 19. Juli 1914:Kronprinz preist demokratiefeindliche Rede

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Aufnahme aus dem Weltkriegsjahr 1917: Bayerns Kronprinz Rupprecht (li.) und Kronprinz Wilhelm von Preußen (re.) verlassen den Bahnhof von Charleville . (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Der deutsche Thronfolger freut sich über einen Antidemokraten, in Paris wird gegen deutsche Journalisten gehetzt und Österreichs Führung verkürzt Urlaube - Teil des Plans, der zum Ersten Weltkrieg führen wird.

Von Oliver Das Gupta

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Der 19. Juli fällt vor 100 Jahren auf einen Sonntag. Die Leser der Münchner Neuesten Nachrichten finden links oben auf der Titelseite die frischesten Meldungen, die am Samstagabend kurz vor Andruck noch die Redaktion in der Sendlinger Straße erreicht haben.

Der türkische Finanzminister will Ende des Monats nach Paris reisen um ein Abkommen zu unterzeichnen, heißt es. Wegen Unruhen im (damals noch zum Vereinten Königreich gehörende) Irland hat der britische König seine Abreise zur Flottenparade verschoben, um mit dem Premierminister zu konferieren. Und Mexikos neuer Präsident hat Spaniens Botschafter empfangen.

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Das klingt nach großer Politik. Doch die (aus heutiger Sicht) tatsächlich wichtigen Meldungen finden sich weiter hinten im Sonntagsblatt (ja, damals gab es eine Sonntagszeitung aus München).

Da steht die Meldung, wonach der deutsche Kronprinz Wilhelm von Preußen die Rede des Historikers und Posener Professors Buchholz gepriesen habe. In dem Vortrag anlässlich des Geburtstags des Reichsgründers Otto von Bismarck geißelt Buchholz die "zunehmende Demokratisierung unserer Entwicklung". Deutschland treibe dem "parlamentarischen System" unrettbar entgegen, klagt der Historiker aus Posen. Unter Bismarck hätte es das nicht gegeben.

Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 19. Juli 1914 (Foto: Oliver Das Gupta)

Außerdem schimpft Buchholz den Regierungschef des Königreichs Bayern Georg Friedrich von Hertling einen "kleinen Mann". Denn er habe sich unlängst tatsächlich erlaubt, zu sagen, dass es nun erstmal genug sei für weitere Rüstungen.

Der Kommentar des Kronprinzen zu der Rede: "Ausgezeichnet". Der älteste Sohn von Kaiser Wilhelm II. schwadroniert genauso gerne vom Krieg wie sein flatterhafter Vater, bisweilen übertrumpft er ihn sogar an Schärfe. Die Münchner Neuesten Nachrichten lassen diese Meldung kommentarlos auf ihre (zumeist bayerischen und oft liberal eingestellten) Leser wirken.

Aus anderen Texten lässt sich im Nachhinein schließen, wie angespannt die Lage in Europa in jenem Sommer vor 100 Jahren tatsächlich ist:

  • In Paris beklagen sich deutsche Auslandskorrespondeten über einen "persönlichen Feldzug" einer nicht genannten französischen Tageszeitung. Diese wolle die deutschen Journalisten "hinausjagen", die Rede ist von "Hetze", Duellforderungen und dem ausbleibenden Schutz durch andere französische Medien. Auslöser war der in Deutschland abgehaltene Prozess gegen den elsässischen Künstler "Hansi", der mit seinen Karikaturen angeblich gegen das Reich aufstachelt. Frankreich hat Elsass-Lothringen nach dem Deutsch-französischen Krieg von 1870/71 an Deutschland abtreten müssen.
  • An der deutsch-russischen Grenze soll es einen Zwischenfall gegeben haben, doch die Meldungen sind widersprüchlich. Ein deutsches Luftschiff soll den Luftraum des Zarenreichs verletzt haben und sei daraufhin beschossen worden - stimmt nicht, sagt die Luftschiffbesatzung. Man habe den Abstand von zwei Kilometern eingehalten. Ob man beschossen wurde, weiß man nicht: Die Motoren seien so laut gewesen.
  • Serbien verlegt angeblich Truppen vom Süden nach Norden - dorthin, wo das Land an Österreich-Ungarn grenzt. Möglicherweise ist diese Meldung von der Führung in Wien lanciert, denn als Quelle schreibt das Blatt nebulös von "zuverlässige Nachrichten".

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Kaiser Wilhelm II. und sein Umfeld ersehnten sich einen Krieg gegen Frankreich und Russland. Im Sommer 1914 taten diese Männer alles, um den Frieden zu sabotieren. Die These von der "Unschuld" Berlins kann nur vertreten werden, wenn man die Ergebnisse penibler Archivforschung ignoriert.

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Darunter, als ob es eine Reaktion auf die Nachricht aus Serbien wäre, heißt es, dass der austriakische Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf seinen Urlaub nach zwei Tagen abbrechen und nach Wien zurückkehren werde. Auch der Spitzendiplomat Otto Graf Czernin unterbricht seinen Urlaub, reist zum in Bad Ischl weilenden österreichischen Kaiser Franz Joseph I. und soll später nach Bukarest "mit besonderen Aufträgen". Mehr bekommen die Zeitungsleser nicht an Information.

Czernin und Hötzendorf gehören zu jenen Männer in der Führung von Österreich-Ungarn, die an einem bevorstehenden Militärschlag gegen Serbien arbeiten.

Die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand durch serbisch-bosnische Nationalisten drei Wochen zuvor gibt ihnen den Vorwand, endlich gegen den verhassten Balkanstaat vorzugehen. Nachdem sie sich vom deutschen Kaiser Wilhelm II., dem Bundesgenossen, einen "Blankoscheck" für ihr Vorgehen geholt haben, setzen sie ein unannehmbares Ultimatum auf, warten aber noch mit der Übermittlung nach Belgrad - man wollte russisch-französische Gespräche abwarten und in aller Stille die Mobilisierung planen.

Deshalb fahren die Militärs und Politiker demonstrativ in den Urlaub - um die Öffentlichkeit und die Politiker anderer Länder einzulullen. Nun brechen sie (und bald auch das deutsche Sopitzenpersonal) die Urlaube ab und kehren auf ihre Posten zurück. Schließlich soll bald das Ultimatum überbracht werden und dann brennt die Lunte zum Krieg.

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