Münchner Neueste Nachrichten vom 22. Juli 1914:Soldatenmangel in britischer Armee

Englische Truppen an der Westfront | English troops at the Western Front

Britische Infanterie an der Westfront im Ersten Weltkrieg. Möglicherweise handelt es sich um eine Filmszene.

(Foto: Sueddeutsche Zeitung Photo)

Heute vor 100 Jahren: Immer weniger Briten wollen dienen, in Sankt Petersburg gehen Zehntausende auf die Straße, Serben schießen angeblich auf Österreicher. Die SZ-Vorgängerin schätzt ein Ultimatum falsch ein - das Dokument bereitet den Ersten Weltkrieg vor.

Von Oliver Das Gupta

Der Weg in den Ersten Weltkrieg

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges scheinen die potentiellen Gegner des deutschen Kaiserreichs zu schwächeln. Beim "Erbfeind", den Franzosen, geht die Furcht um, dem deutschen Miliär unterlegen zu sein - so stand es gerade erst in der Zeitung.

Und nun berichten die Münchner Neuesten Nachrichten davon, dass dem Vereinten Königreich die Soldaten ausgehen. Junge Männer streben lieber in die freie Wirtschaft, als sich eine Uniform anzuziehen. "Die letzten guten Wirtschaftsjahre sind der Rekrutierung der britischen Armee sehr verhängnisvoll gewesen", heißt es.

Weil sich immer weniger Freiwillige finden, habe das Londoner Kriegsministerium die Zahl der zu erwartenden Neulinge auf 34 700 pro Jahr gedrosselt. Doch in den letzten fünf Jahren seien auch diese Soll-Stärken immer wieder unterboten worden. Insgesamt sei die britische Armee trotz der herabgesetzten Erwartungen nun 25 000 Mann unter Plan, schreibt das SZ-Vorgängerblatt am 22. Juli 1914.

Feierstimmung und Krawalle in der Zarenhauptstadt

So handelt kein Staat, der einen Krieg plant. Und tatsächlich sind die damals den Deutschen eher zugewandten Briten vor 100 Jahren bis zuletzt bemüht, den Status quo in Europa zu halten. Sogar noch nach Beginn der Kampfhandlungen in Serbien eine Woche später sollte London weitere Vermittlungsvorschläge machen.

Erst nach dem deutschen Überfall auf die neutralen Länder Belgien und Luxemburg Anfang August werden sich auch die Briten in das beginnende Gemetzel einschalten und es damit zum Weltkrieg machen. Denn London ist dann klar: Die Reichsführung um Kaiser Wilhelm II. will einen großen Krieg und hegt Allmachtsphantasien (hier mehr dazu).

Doch nun, weniger als zwei Wochen vor dem britischen Kriegseintritt, richtet sich der Fokus der europäischen Politik auf Wien und Belgrad sowie auf Sankt Petersburg. In der russischen Hauptstadt bekräftigen Frankreichs Präsident Raymond Poincaré und Zar Nikolaus II. die Militärkonvention, die beide Länder seit vielen Jahren verbindet. Das Bündnis erzeugt in Berlin (und Wien) das Gefühl eingekreist zu sein, die Reise Poincarés verstärkt diesen Effekt.

Bei den mehrtägigen Konsultationen kommt es zu großen Gesten: Ehrenkompanien werden abgeschritten, Galadinner ausgerichtet, die Honoratioren der Stadt empfangen die Gäste mit silbernen Schüsseln, die mit Brot und Salz gefüllt sind, der französische Botschafter erhält einen Orden und Tausende Schaulustige brüllen "Hurra" für die Gäste aus Westeuropa.

Doch das von den Deutschen als kommende Supermacht gefürchtete Zarenreich (hier mehr dazu) ist gesellschaftlich zerrissen, es gärt auch in jenen Tagen: Zeitgleich zur Poincaré-Visite finden Großdemonstrationen in Sankt Petersburg statt - warum, geht leider nicht aus den Meldungen hervor. Etwa 160 000 Menschen protestieren und randalieren, mehrere Straßenbahnwagen werden umgeworfen. Der Staat reagiert mit Gewalt: "Kosaken feuerten in die Menge, mehrere Personen wurden verwundet", heißt es lapidar.

Schüsse fielen angeblich auch in einer anderen Hauptstadt: In Belgrad, in dessen unmittelbarer Nähe Serbien an das Habsburger Reich grenzt, sollen "serbische Gendarmen" auf österreichische Staatsbürger gefeuert haben, die mit dem Boot an einem Donau-Ufer anlegen wollten. Zehn Schüsse seien gefallen, wobei keiner traf, heißt es in einer Beschwerde, die der österreichische Botschafter Wladimir Giesl von Gieslingen bei der serbischen Regierung abgibt.

Der Freiherr besitzt zu diesem Zeitpunkt noch eine weitere diplomatische Note, deren Inhalt streng geheim und deren Wirkmächtigkeit sich als furchtbar entpuppen sollte: Ein Ultimatum von Österreich-Ungarn an die serbische Regierung, die sich als wesentlicher Baustein zur Entfesselung des Ersten Weltkrieges erweisen sollte. Botschafter Giesl wird sie am nächsten Tag übergeben.

Fatale Fehleinschätzung

Die Öffentlichkeit weiß inzwischen, dass ein solcher Schritt bevorsteht, allerdings hält niemand für möglich, dass das Papier unannehmbare Forderungen enthält. Die Münchner Neuesten Nachrichten schreiben, dass Wien auf die Verfolgung und Bestrafung derjenigen Männer pochen dürfte, die in den Mord an Österreichs Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo (hier mehr dazu) verwickelt sind und sich in Serbien aufhalten. Außerdem müsse die serbische Regierung gegen antiösterreichische Propaganda vorgehen.

Österreich werde, da ist sich die SZ-Vorgängerin sicher, "bestrebt sein, (...) jeden Eingriff in die staatliche Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, sowie das staatliche Verfügungsrecht Serbiens zu vermeiden".

Da liegen die Münchner Zeitungsmacher fatal falsch: Das Ultimatum enthält inakzeptable Forderungen, wie etwa, dass österreichischen Beamten erlaubt sein muss, "bei der Unterdrückung" der antiösterreichischen Bewegung in Serbien mitzuwirken.

Das Kalkül der Mächtigen in Wien sollte in den Folgetagen aufgehen: Belgrad will die Forderungen des mächtigen Nachbarn zwar weitgehend erfüllen - aber eben nicht alle Details. Die Ablehnung des Ultimatums sollte den Österreichern sechs Tage später den Vorwand liefern, Serbien den Krieg zu erklären.

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