Gedenken an das Attentat von Utøya:"Der Rassismus lebt weiter"

Norway commemorates third anniversary of July 22 massacre

Norwegen gedenkt der Opfer: Jonas Gahr Stoere und Premierministerin Erna Solberg auf der Insel Utøya am dritten Jahrestag des Attentats.

(Foto: dpa)

Blumen, Kränze, Zettel mit guten Wünschen - Norwegen gedenkt zum Jahrestag des Massakers von Utøya der 77 Menschen, die Anders Breivik tötete. Doch das Land meidet die wichtigste Frage: welche Verantwortung die Gesellschaft für ihre Extremisten trägt.

Von Silke Bigalke, Oslo

Der Rasen ist gemäht, Blumen wurden gepflanzt, von einem Baum auf dem Campingplatz der Insel Utøya hängen die ersten bunten Zettel. Wünsche und Gedanken stehen darauf. "Sie werden immer ein Teil von uns sein" zum Beispiel, "Wir sehen uns nächstes Jahr" oder schlicht: "Leben". Zwei Tage lang hat die Insel geöffnet, für Angehörige, Überlebende und Hinterbliebene der Opfer des 22. Juli 2011. Damals tötete der Rechtsextremist Anders Breivik 77 Menschen. Acht starben durch eine Autobombe im Osloer Regierungsviertel. 69 kamen beim Ferienlager der politischen Jugendorganisation AUF auf der Insel um.

Gedenkfeier im Regierungsviertel, Gottesdienst im Osloer Dom, Kranzniederlegung. "Die Verantwortung für die Tragödie vom 22. Juli liegt allein bei dem Attentäter", sagt Ministerpräsidentin Erna Solberg bei der Zeremonie. Es gebe keine Entschuldigung für Gewalt und Extremismus. "Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um ihn zu verhindern."

Anderen Themen als die Motive für die unfassbare Tat

Die Frage nach einer gesellschaftlichen Verantwortung ist nach der Tat so gut wie nie gestellt worden. Sie ist sicher die schwierigste, und die Norweger haben sich bisher auf andere Fragen konzentriert. Etwa darauf, ob die AUF, die Jugend der Arbeiterpartei, auf Utøya wieder Sommerlager haben sollte. Für nächstes Jahr ist das fest eingeplant. "Wahrscheinlich sehen wir Utøya nun zum letzten Mal so, wie es damals war", sagt daher Trond Henry Blattman von der National Support Group für Hinterbliebene.

Auch über die geplante Gedenkstätte ist viel diskutiert worden. Gegenüber der Insel soll eine Landspitze vom Ufer abgetrennt werden, ein Schnitt durch die Natur als Symbol für die Wunde eines Landes. Die Pläne haben so viel Protest ausgelöst, dass die Regierung sie um ein Jahr verschoben hat. Oder die Sicherheitsdebatte: Das Versagen der Polizei am 22. Juli und die politische Verantwortung dafür haben die Norweger wochenlang beschäftigt.

Über diese Dinge ist leichter zu sprechen als über die Motive für eine unfassbare Tat. In seinem "Manifest", in dem er die Morde begründet, wirft Breivik der Arbeiterpartei vor, die Islamisierung Norwegens zu fördern. Es sei dennoch unmöglich, Breiviks Tat als allein politisch motiviert zu betrachten, sagt Erika Fatland, Sozialanthropologin, die ein Buch über Utøya geschrieben hat. "Er ist kein normaler Mensch, kein normaler Neonazi, kein typischer Rassist. Er ist eine unbegreifliche Kreatur."

Breivik als anomaler Einzeltäter?

Dieser Meinung sind viele. Rune Berglund Steen, Leiter des Antirassismus-Zentrums in Oslo, sagt, er habe von Anfang geringe Erwartungen an die gesellschaftliche Debatte nach dem Attentat gehabt. Doch auch die seien enttäuscht worden. Man betrachte Breivik als "Anomalie", als anormalen Einzeltäter, ohne Verbindung zur Gesellschaft. "Ich sehe das ganz anders. Ich sehe Breivik als Amalgam der schlimmsten Teile unserer Gesellschaft", sagt Berglund Steen. Auch wenn Breivik ein psychologischer Fall sei, seien viele seiner Ideen eng verbunden mit Ansichten, die auch Teile der norwegischen Gesellschaft vertreten.

Seine Angst vor Muslimen etwa gebe einen breiteren Trend wieder. "Wir sind - wie auch schon vor den Terroranschlägen des 22. Juli - besorgt über einen steigenden Islamhass, bei dem Muslime zu oft als Bedrohung für Norwegens Gesellschaft betrachtet werden." Die Debatte über Immigration sei in den letzten Jahren noch harscher geworden.

"Der Rassismus lebt weiter"

Als am 22. Juli vor drei Jahren die ersten Fernsehbilder von der Bombe im Regierungsviertel liefen, gingen die meisten Norweger von einem islamistischen Täter aus. Anfangs bestärkten die Medien diese Vermutung. Mit einem rechtsextremistischen Anschlag rechnete niemand. Heute sagen viele Norweger, sie seien beinahe erleichtert gewesen, als sich der Täter als Norweger herausstellte. Andernfalls wäre der Ton gegen Ausländer mit muslimischem Hintergrund noch schärfer geworden.

"Was auf Utøya passiert ist, war so extrem, dass viele andere Dinge, verbale Attacken auf Immigranten, dagegen fast okay wirkten und wie nicht zu verbinden mit dieser Tat", sagt Ali Esbati, Abgeordneter der schwedischen Linkspartei. Er war am 22. Juli zu Gast auf Utøya, überlebte unverletzt. Einige Medien hätten nach der Tat ihre islamfeindlichen Kommentare sogar verteidigt, sagt Esbati, wollten sie nicht einstellen, ihre Meinungsfreiheit hochhalten. "Der Rassismus lebt weiter", so formuliert es AUF-Vorsitzender Eskil Pedersen auf der Gedenkfeier. Doch er meint nicht nur Norwegen, sondern verweist auf die Erfolge rechtsextremer Parteien "in Ländern, die uns umgeben".

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