Medizinisches Marihuana:Notlösung aus dem Blumentopf

Obama Admin. Unveils New Policy Easing Medical Marijuana Prosecutions

Heilmittel oder zusätzliche Gefahr? Medizinisches Marihuana ist nicht gut untersucht.

(Foto: David McNew/AFP)

In Ausnahmefällen sollen schwerkranke Menschen Cannabis zur Linderung ihrer Leiden anbauen dürfen. Doch hilft das Rauschmittel überhaupt?

Von Berit Uhlmann

Eine Erleichterung" nennen Schmerz- und Palliativmediziner das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln. Die Richter entschieden, Schwerkranken künftig unter Umständen den Anbau von Cannabis zu erlauben. "Nachvollziehbar und sinnvoll", kommentiert sogar die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, deren Aufgabe ja eigentlich ist, vor den Gefahren von Drogen zu warnen. Obgleich das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, nahmen es erste Politiker zum Anlass, die Legalisierung von Cannabis zu thematisieren.

Dabei stellen sich nicht nur Fragen der Sicherheit, etwa wie Missbrauch ausgeschlossen werden kann, wenn Kranke ihre eigene Hanfzucht anlegen. Fraglich ist auch, wie gut das Cannabis aus dem Blumentopf tatsächlich hilft.

"Das ist ein großes Problem", sagt Joachim Nadstawek, Vorsitzender des Berufsverbands der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin. "Es gibt viele einzelne Fallberichte, in denen gerauchtes Cannabis sich als wirkungsvoll herausgestellt hat." Der Bonner Schmerzmediziner hat selbst beobachtet, wie Patienten mit schwerer Migräne, mit quälenden Rücken- und Eingeweideschmerzen sich durch den regelmäßigen Joint wieder besser fühlten und weniger Opioide benötigten. "Doch es gibt keine einzige Studie, in der ganze Pflanzenbestandteile nach dem Goldstandard der Medizin untersucht wurden." Dies wären placebokontrollierte Studien, bei denen weder die Ärzte noch die Patienten wissen, wer einen Wirkstoff und wer ein Scheinmedikament bekommt.

Untersucht sind bislang lediglich einzelne Inhaltsstoffe der Hanfpflanze wie Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol. Und schon bei diesen Stoffen sind hochwertige wissenschaftliche Arbeiten nicht eben zahlreich. Am besten belegt ist, dass die Kombination zweier Cannabis-Inhaltsstoffe Spastiken dämpfen kann, an denen Patienten mit Multipler Sklerose häufig leiden. In der bislang größten Studie erwies sich das Medikament namens Nabiximols einem Placebo überlegen. Untersucht wurden aber insgesamt nur 572 Patienten.

"Hinter Cannabis-Studien steht keine Pharmaindustrie, da die Pflanzen nicht patentierbar sind"

Wie stark reine Cannabis-Medikamente Schmerzen lindern, ist nur in kleineren Studien getestet. Diese liefern allenfalls Hinweise auf eine Wirksamkeit. Helfen könnten einzelne Cannabis-Inhaltsstoffe möglicherweise auch bei Störungen der Blasenfunktion, schrieben US-Forscher jüngst in einer Übersichtsarbeit für das Fachblatt Neurology. Dagegen scheinen Patienten mit Tremor ihr Zittern auch mit medizinischem Marihuana nicht unter Kontrolle zu bringen. Wie hilfreich es bei Epilepsie, Huntington Disease und dem Tourrettesyndrom ist, ließen die Neurologen offen, zu gering war die wissenschaftliche Evidenz.

Die Pharmaindustrie hat kein Interesse an Cannabis-Studien

Ebenso unklar ist der Nutzen für jene Aids-Patienten, die unter schwerer Appetitlosigkeit leiden und bedenklich abmagern. In den USA ist Cannabis für sie zur Appetitsteigerung zugelassen. Doch die Wissenschaftler der strengen Kriterien verpflichteten Cochrane Collaboration zogen noch im vergangenen Jahr das Fazit: Ein Wirknachweis steht noch aus.

Ob solch ein Nachweis für das Cannabis-Kraut je kommt, ist allerdings fraglich. "Hinter Cannabis-Studien steht keine Pharmaindustrie, da die Pflanzen nicht patentierbar sind", sagt Nadstawek. Dabei sind diese Untersuchungen besonders aufwendig, da sehr viele Genehmigungen eingeholt werden müssen. In den USA, aus dem traditionell ein Großteil der Forschungsarbeiten kommt, ist medizinisches Marihuana zwar bereits in 22 Bundesstaaten legalisiert. Die Liste der zugelassenen Anwendungsmöglichkeiten wird immer länger und umfasst mittlerweile auch Krankheiten wie Epilepsie, Alzheimer und Glaukome, für die es kaum Nachweise gibt. Doch die Forschung steht noch immer vor rechtlichen Hürden.

Wer Cannabis an Menschen testen möchte, muss Anträge an vier verschiedene Institutionen stellen, berichtete die New York Times vor einigen Tagen. Auch in Deutschland müssen etliche Genehmigungen eingeholt werden; allein für den bürokratischen Aufwand können 100 000 Euro zusammenkommen. Wenige Forschungseinrichtungen können und wollen dies leisten.

Selbstgezogenes Gras aus dem Eigenanbau bleibt eine Notlösung

Die Kölner Richter haben das Gras aus dem Eigenanbau denn auch als "Notlösung" bezeichnet. Es ist gedacht für einige schwerkranke Menschen, denen nichts anderes hilft, und die sich die gängigen Cannabis-Medikamente nicht leisten können. Notlösung ist sicher eine zutreffende Bezeichnung. Denn der Eigenanbau setzt die Patienten Risiken aus, die über die der Medikamente hinausgehen. "Die meisten Patienten rauchen das Cannabis", sagt Nadstawek. Doch die Dosierung in der Tüte ist unklar und schwer zu kontrollieren. Hinzu kommt der Rauch. Forscher aus Frankreich kamen vor einem Monat in einer Übersichtsstudie zu dem Schluss, dass Joints so wie Zigaretten ein erheblicher Risikofaktor für Lungenkrebs sind.

Nadstawek hält das Gerichtsurteil dennoch für wegweisend. Patienten, die sich in ihrer Not nicht anders zu helfen wissen, werden entkriminalisiert. Und: "Endlich wird gesehen, dass Cannabis Patienten auch nützen kann." Dabei bleibt vorerst offen, wer zu diesen Patienten zählt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: