Münchner Neueste Nachrichten vom 24. Juli 1914:Wiens furchtbarer Schlag

Münchner Neueste Nachrichten 24. Juli 1914

Der Aufmacher des Abendblatts der Münchner Neueste Nachrichten 24. Juli 1914 (als Vorabendblatt bereits auf den nächsten Tag datiert): Österreichs Ultimatum an Serbien

(Foto: Oliver Das Gupta)

Knapp vier Wochen nach der Thronfolger-Ermordung stellt Österreich Serbien ein Ultimatum - Beobachtern ist sofort klar, wie ernst die Lage ist. In London orakelt man von einem großen Krieg.

Von Barbara Galaktionow

Am 24. Juli 1914 ist die Katze aus dem Sack. Die österreichisch-ungarische Regierung hat ihre bereits erwartete Note am Vorabend an Serbien übergeben. Sobald der Text öffentlich bekannt wird, ist jedem klar: Dieses Dokument hat es in sich. In Serbien werde man es "wie einen furchtbaren Schlag ins Gesicht empfinden", heißt es in der Berliner Hauptstadtpresse. Österreich trete als "Polizei auf, die es übernimmt, in Serbien Ordnung zu schaffen". So nachzulesen in den Münchner Neuesten Nachrichten.

Der Weg in den Ersten Weltkrieg

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten 1914 über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Auch das SZ-Vorgängerblatt muss schlagartig erkennen, dass die österreichische Note Serbien keineswegs ein "ehrenvolles und ehrenhaftes Einlenken" ermöglicht, wie man an den Vortagen vermutet. Im Gegenteil: "Die Note Oesterreich-Ungarns trägt also doch den Charakter eines Ultimatums", stellt das Blatt in seiner Abendausgabe fest.

Auf seiner Titelseite veröffentlicht die Zeitung den gesamten Text des Schriftstücks im Wortlaut. Darin wirft Wien Belgrad vor, nicht entschieden gegen die großserbische Bewegung vorgegangen zu sein - und damit gegen frühere vertragliche Verpflichtungen verstoßen zu haben. Zudem habe sich gezeigt, dass die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo "in Serbien ausgeheckt wurde". Unter diesen Umständen sei es nicht möglich, weiter "Langmut" zu bewahren.

Österreich verlangt von Serbien einen öffentlichen Kotau sowie ein entschiedenes Vorgehen gegen österreichfeindliche Bestrebungen. In zehn Punkten wird akribisch aufgelistet, welche Bedingungen Belgrad im Kampf gegen großserbische "Propaganda" zu erfüllen hat und wie es zur Aufklärung des Attentats beitragen muss.

Frankreichs Presse wirft Wien Zynismus vor

Wien fordert massive Eingriffe in die staatliche Souveränität Serbiens. Das Land soll zulassen, dass "Organe der österreichischen Regierung" bei der Unterdrückung der großserbischen Bewegung im Land mitwirken. Auch bei der Untersuchung des Thronfolger-Mordes sollen Wiener Beamte mitreden. Vor allem diese Forderungen sind für die Regierung in Belgrad unannehmbar. Die österreichische Regierung weiß das, ja, sie hat das Ultimatum in Absprache mit dem deutschen Kaiserreich eigens so formuliert, dass Serbien es nur ablehnen kann. Denn Österreich und Deutschland wollen den Krieg (hier mehr dazu).

Dem Münchner Blatt ist das jedoch nicht bekannt. Zwar äußert die Redaktion die Ansicht, dass die Lage "bitter ernst" sei. Die Note zeige, das Österreich die Streitigkeiten mit Serbien möglichst auf friedlichem Wege, gegebenenfalls aber auch auf kriegerische Weise lösen wolle. Das hänge jedoch von Serbien ab. Wien verlange von Belgrad nichts Unbilliges, findet die Zeitung. "Niemand wird einen Nachbar sanft anfassen, der unaufhörlich mit dem Feuerbrand hantiert ...", heißt es.

Die ersten Pressereaktionen aus dem Ausland, die die Münchner Neuesten Nachrichten zitieren, sind hingegen harsch:

  • In Serbien zeigt man sich, wie zu erwarten, empört: Wenn Österreichs Regierung tatsächlich so "absurde Dinge" verlange, wie kolportiert werde, "sollte sie sich die Mühe sparen", heißt es demnach aus dem "offiziösen serbischen Pressebureau".
  • Auch im Land des deutschen "Erbfeindes" Frankreich gibt es ungehaltene Reaktionen. Eine Zeitung prangert die "zynische Art" an, wie Österreich mit der Affäre umgehe. Sie "behauptet", wie die Münchner Neuesten Nachrichten distanziert schreiben, Deutschland und Italien hätten der Note zugestimmt (was im Falle Deutschlands voll zutrifft). Ein royalistisches französisches Blatt trifft den Nagel auf den Kopf, als es schreibt, von deutscher Seite scheine man Österreich "anzufeuern und aufzuhetzen".
  • Was Reaktionen aus Großbritannien angeht, befürchten die Münchner Neuesten Nachrichten, dass es "im allgemeinen keinen guten Eindruck machen" wird, dass die österreichische Note den Charakter eines Ultimatums trägt. Eine britische Zeitung rät Österreichs Außenminister Leopold Berchtold, vorsichtig mit der Note umzugehen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass es ihm nur um die "Demütigung" Serbiens gehe.
  • Die konservative Morning Post rät Serbien eindringlich dazu, Österreich so weit wie möglich entgegenzukommen. Die Tendenz des Artikels sei aber, so schreiben die Münchner Neuesten Nachrichten, anzudeuten, dass Österreich einen Vorwand für Krieg suche und darin von Deutschland unterstützt werde. Und dass England rechtzeitig deutlich machen sollte, auf welcher Seite es im Falle eine europäischen Krieges stehe, nämlich auf der von Frankreich und Russland.

Pariser Händel vor Gericht

Die Regierungen der Länder haben sich offenbar noch nicht zum Ultimatum geäußert. Nur aus "Berliner politischen Kreisen" verlautet, dass es gut sei, wenn Serbien "von allen Seiten darüber unterrichtet würde, daß es für eine Politik des Trotzes oder der Verschleppung von niemand Beistand zu erwarten" habe.

Für eine Antwort auf das Ultimatum gewährt Österreich Serbien gerade einmal zwei Tage, bis zum 25. Juli um sechs Uhr abends. Das ist nicht viel Zeit - und auch das ist von den Verbündeten in Wien und Berlin bewusst so gewählt. Doch dass alle aus Belgrad, Sankt Petersburg und auch aus London kommenden Bemühungen um eine Fristverlängerung ins Leere laufen werden, wissen am 24. Juli nur die Regierungen in Wien und Berlin.

Am Tag nach der Übergabe des Ultimatums ist der politische "Bienenschwarm in voller Bewegung", wie Österreichs Botschafter in Belgrad, Wladimir Giesl von Gieslingen, der das Dokument überreicht hatte, später in seinen Erinnerungen schreiben wird.

Während es in vielen europäischen Hauptstädten um die Frage von Krieg oder Frieden geht, erhält in Paris ein spektakulärer Mordprozess immer mehr den Charakter einer Schmonzette. Henriette Caillaux, Ex-Geliebte und zweite Ehefrau des französischen Ex-Premiers Joseph Caillaux, hat den Chefredakteur der Zeitung Le Figaro erschossen. Dieser habe intime Brief von ihr und ihrem Mann veröffentlichen wollen, da sei es zu einer Art Kurzschlusshandlung gekommen, begründet die Angeklagte ihre Tat.

Angeklagt: die Schlafwagengesellschaft

Im Zeugenstand beschreibt nun Madame Caillaux Nummer eins, die der Zeitung die Briefe zugespielt hatte und sie nun auch dem Gericht übergibt, voller Bitterkeit, wie ihr früherer Mann sich von seiner damaligen Geliebten - der jetzigen Madame Caillaux - habe trennen wollen. "Aber diese Person hielt die Beute immer wieder fest". Das sorgt für Aufregung im Gerichtssaal. Monsieur Caillaux bekennt sich in einem dramatischen Auftritt zur Liebe zu seiner zweiten Frau, der Angeklagten ("Ich bin mit ihr und möchte an ihrer Seite sein!"), die kann daraufhin die Tränen nicht zurückhalten.

Die Verteidigungsstrategie sei an diesem Tag zusammengebrochen, schreibt der Figaro. Denn in den vorgelegten Briefen stehe nichts von Bedeutung. Ihr Chefredakteur, ein vehementer Gegner Caillaux', sei nicht wegen der Briefe, sondern aus politischen Gründen umgebracht worden.

Im Sportteil der Münchner Neuesten Nachrichten wird gemeldet, dass beim Fußball einige "Länderkämpfe" anstehen. Auf dem Austragungsplan stehen Spiele der DFB-Elf gegen Dänemark, Österreich und die Schweiz, aber auch mit Belgiern und Engländern sollen die Deutschen sich messen.

Wenige Tage später würde alles Makulatur sein. Nicht auf dem Sportplatz trafen Deutsche auf Belgier und Engländer, sondern auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Der Weg dahin ist an diesem Freitag Juli 1914 kaum mehr aufzuhalten.

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