Nachtleben Berlin:Voll durch

Nachtleben in Berlin, Prenzlauer Berg, Berlin

Feiern über den Dächern von Berlin. Neuer Wohnraum ganz oben ist nichts für Mieter mit kleinem Geldbeutel.

(Foto: Getty)

Ist es noch die After-Hour oder doch schon wieder Vorglühen? Beim Ausgehen in Berlin zählt vor allem eines: Immer weitermachen! Ein Tag, der zur Nacht wird - zwischen Kreuzberg, Plüschelefanten und dem Moment, an dem alles gesagt ist.

Von Boris Herrmann, Berlin

Der Wecker klingelt. 4.30 Uhr! An diesem Samstagmorgen steht eine kitschige Mondsichel am Firmament. Wie in der Werbung vom "Night & Day"-Kaffee. Ein Frühstück wäre jetzt schön. Noch schöner wäre es, weiterzuschlafen und den Mond den Mond sein zu lassen. Für beides ist keine Zeit. Gleich wird die Sonne aufgehen. Und wir haben uns schließlich vorgenommen, den ganzen Tag im Nachtleben-Modus zu verbringen. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.

Kreuzberger Nächte waren noch nie die kürzesten. In den vergangenen Jahren wurden sie allerdings immer länger. Erst dauerten sie bis zum Morgengrauen, dann bis zum Mittagessen, dann bis zur Sportschau, dann bis zur nächsten Nacht, dann bis zum nächsten Morgen.

Die ewige Party. Das ist eines der bekanntesten Berlin-Klischees. Es ist aber auch eine Berliner Realität. Man kann sich in dieser Stadt auf nichts verlassen, außer darauf, dass immer irgendwo ein Tresen besetzt ist und irgendwo ein Bass wummert. Früher nannte man die Party, die sich nahtlos an die Nacht anschließt, AfterHour. Das vermengte sich dann irgendwann mit einer Art Before-Hour vor der nächsten Sause. Inzwischen kann keiner mehr auseinanderdröseln, wann die eigentliche Hour von der noch eigentlicheren Hour abgelöst wird.

Richtig ausgehen. In Berlin ist das ein Tagesgeschäft geworden. Der alte Spruch "Wir machen die Nacht zum Tag!" hat sich hier überholt. Man macht genauso den Tag zur Nacht.

4.58 Uhr, wir müssen jetzt irgendwie versuchen, Partylaune zu entwickeln. Es gibt Angenehmeres. Was soll's. Fun, schreibt Adorno, Fun ist ein Stahlbad.

Um fünf treffe ich meine Begleitung am U-Bahnhof Schlesisches Tor. Fünf Minuten später sind wir in einem bekannten Kreuzberger Tag-und-Nacht-Etablissement namens Chalet. Genau genommen stehen wir in der Schlange vorm Chalet. Es handelt sich hier um einen Nachfolge-Club der ehemaligen Bar 25, die stilprägenden Einfluss auf den ganzen Berliner Tag-und-Nacht-Betrieb hatte. Dafür stehen wir gerne an. Viele andere tun das offenbar auch.

Wenn man im international geprägten Berliner Nachtleben auf jeden Fall mit Berlinern ins Gespräch kommen will, ist man bei den Türstehern an der richtigen Adresse. "Na, ihr zwee, wo kommt ihr denn her?" Eines ist gewiss, die Wahrheit wäre jetzt unangebracht (aus dem Bett, gerade Zähne geputzt). Wir sagen stattdessen: "Aus der Wilden Renate!" "Na, denn ma rinn."

Das Chalet befindet sich im alten Steuerhaus der Königlichen Wasserinspektion aus dem 19. Jahrhundert. Wasser gibt es bis heute. Ein kleiner Weiher in der Hof-Bar, an dessen Ufern sich die Gäste ausruhen, die schon etwas länger unterwegs sind als wir. Dazu knutschende Mädchen auf einem Schaukelpferd. Ein paar blinkende Vogelkäfige am Tannenbaum. Eine Kutsche in der Morgensonne. Es tut weh, sich das einzugestehen um 5.31 Uhr auf nüchternen Magen, aber wir brauchen jetzt erst mal einen Gin-Tonic.

Drinnen vor der sorgsam abgedunkelten Tanzfläche gibt es eine Stufe. Das wissen die regelmäßigen Partygänger. Und die unregelmäßigen Partygänger erkennt man daran, dass ihnen an der Stufe der Gin-Tonic aus der Hand fällt. Wir müssen ohnehin weiter. Wir haben noch viel vor.

"Übelst geil, oder?"

Es ist jetzt 7.36 Uhr. Wir nehmen ein Kurzstrecken-Taxi zu unserer Notlüge von vorhin, zur Wilden Renate.

Meine Begleiterin spricht mit dem Türsteher in schönstem Ostberlinerisch. Langsam wissen wir, wie der Hase läuft. Diesmal zwängen wir uns direkt auf eine der beiden Tanzflächen und finden übereinstimmend: Der typische Einrichtungsstil der Berliner Clubs hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht wesentlich geändert. Es sieht immer noch alles ein wenig nach Abrissbirne aus. Hang zur Wohnzimmertapete. Gerne selbst Gebasteltes an der Decke. Farblich viel Ochsenblut.

Unter einem Himmel aus tausend Discokugeln, bei nüchterner Betrachtung sind es vielleicht 37, aber immerhin, wollen wir die achte Stunde dieses wunderbaren Tages tanzend begrüßen. Erster Eindruck: gut! Zweiter Eindruck: Man kommt hier eher schlecht ins Gespräch, denn der Bass ist so laut, dass man ihn auch mit dem Zwerchfell hören kann. Aber wenn sich dann hin und wieder doch ein kleiner Plausch mit Fremden ergibt, dann geht es meist sehr freundlich zu.

Hey, kann ich mal dein Feuerzeug haben?

Klar.

Du, macht's dir was aus, wenn ich dein Feuerzeug ein bisschen in der Hand behalte?

Nee, klar.

Auch in der Renate gibt es einen schönen Lustgarten samt verwunschenem Holzverschlag, der sich Onkel Toms Hütte nennt. Da sitzen Milan und Heiko. Milan hat schon 'n bisschen wat jeballert. "Siehst durchaus durch aus", sagt Heiko.

Heiko arbeitet in einer Rechtsanwaltskanzlei. Und Heiko redet gerne.

Rat mal, wie mein Chef heißt.

Keine Ahnung.

Michael Douglas.

Wow!

Aber deutsch ausgesprochen. Wie Douglas, die Parfümfirma.

Ach so.

Und jetzt rate mal, wie mein Kollege heißt.

Steve McQueen?

Nee, Frank Elsner.

Auch gut.

Übelst geil, oder?

Doch. Doch.

Fehlt nur ein T, dann wäre es noch lustiger.

Stimmt.

Was man in der Wilden Renate nicht erleben kann, erlebt man in deutschen Anwaltskanzleien.

Mit dieser beruhigenden Erkenntnis ziehen wir ein paar Schritte runter Richtung Ostkreuz und ein paar rüber Richtung Alex. Dann stehen wir vor einem Laden namens "://about blank". Die Türsteherin hat etwas Pinkfarbenes auf dem Kopf, was eine Frisur sein könnte. Sie fragt: "Na, ihr Süßen, wisst ihr denn, wo ihr hier seid?" Jetzt muss man sich nur noch einen Kommentar zu dem Namen verkneifen, schon ist man drin im ://about blank. Heute ist Mottoparty. "Love Techno, hate Germany." Ein interessantes Motto, selbst wenn ich Deutschland bisher ein bisschen mehr mochte als Techno. Der Vorteil, wenn man im Deutschlandhasser-Milieu ausgeht: Die Preise sind moderat. Solikasse.

Auf der Tanzfläche treffen wir Erik. Erik hat einen Elefanten mitgebracht. Aus Plüsch natürlich.

Hee Erik, warum hast du eigentlich einen Elefanten dabei?

Weil mich das alle fragen.

Erik gibt mir den Elefanten. Zwei Minuten später werde ich von Tamara gefragt, warum ich einen Elefanten dabei habe. Es funktioniert also. Elefanten verbinden Menschen.

Die Feiermenschen winken artig zurück. Meistens.

Tamara ist mit Ralf da. Ralf trinkt Sekt. Das typische Getränk der Linksradikalen. "Man muss auch mal seine Vorurteile abbauen", sagt Ralf, "da gibt es nämlich große Unterschiede. Es gibt schlechten Sekt und guten Sekt." Soso. Wovon lebt eigentlich Ralf? "Hab ein paar Jahre von Garderobe gelebt", sagt er. Ralf hat Kumpels, die eine eigene Firma gegründet haben und jetzt in Berliner Clubs die Jacken als Dienstleister aufhängen. "Es macht total Sinn, die Garderobe outzusourcen", findet Ralf. Mag sein. Wir lassen die linke Weltrevolution trotzdem mal wieder mit ihren Umsturzplänen alleine. Es ist ja schon nach zehn.

Das berühmte Berghain hinter dem Ostbahnhof wäre jetzt eine Option. Aber vom Berghain sagen selbst die Touristen, dass es inzwischen ein bisschen zu berühmt ist. Wir ziehen lieber noch ein Stück weiter zu einem Absturzklassiker, dem Golden Gate unter der Jannowitzbrücke.

Dort tropft um die Mittagszeit der Schweiß der letzten zwölf Stunden von der Decke. Es gibt in diesem beengten Betonbunker nur eine Ausguckluke mit rötlichem Plexiglas, hinter der die oberen Stockwerke eines Plattenbaus durchschimmern. Wer gerne Sauerstoff atmet, ist hier falsch. Die Musik ist aber prima.

Wer nicht zum Recherchieren da ist, hat um diese Uhrzeit zwei Möglichkeiten. Entweder er nimmt die letzte Gelegenheit der ersten Tageshälfte wahr, um einen Sexualpartner zu finden. Oder er legt ein paar Drogen nach. "Brauchst noch 'n bisschen Keta?", fragt eine, die ihren Namen lieber für sich behält. Ketamin gilt als ideales Betäubungsmittel für Katze, Hund, Pferd und Rind. Menschen scheint es zum Tanzen zu animieren. Wir bleiben beim Gin.

Das Wetter ist jetzt eh zu gut für diese verruchte Höhle. Den Nachmittag verdaddeln wir lieber unter freiem Himmel am Spreeufer. Bis zum Lichtpark tragen uns die räudigen Füße gerade noch. Von zwei bis halb vier legt dort "U so Witty" auf und macht seine Sache glänzend. Die Tanzfläche ist trotzdem leer, weil die Leute so gerne in Liegestühlen liegen, ihre Füße im Sand vergraben und sich fragen, wo sie die letzte Nacht verbracht haben oder wo sie die nächste verbringen werden. Wenn ein Ausflugsschiff vorbeikommt, winken die Touristen herüber und freuen sich, dass sie echte Berliner Feiermenschen fotografieren können. Und die Feiermenschen winken artig zurück. Meistens. Manchmal steht auch einer auf, zieht seine Hose runter und winkt mit dem Penis.

Plötzlich ist es spät. Wir müssen los. Die MS Hoppetosse steht ein ganzes Stück weiter flussaufwärts. Ende der Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts schipperte sie als luxuriöser Passagierdampfer über die Nordsee. Im Zweiten Weltkrieg war sie als schwimmendes Lazarett im Einsatz. Jetzt ist sie das Schmuckstück der Berliner Sommerpartymeile. Dort soll dieser Tag ein angemessenes Ende finden. Im Unterdeck knarzen die Bässe und glucksen die Beats so herrlich ineinander, dass jede Ratte blöd wäre, die freiwillig das Schiff verließe. Oben an der Reling fühlt man sich zwischen all den tanzenden Matrosen mit Sonnenbrillen und Häschenohren wie Käptn Iglu auf großer Fahrt. Die Silhouette der Hauptstadt glänzt im schiefen Abendlicht. Wir treffen die zwei Drogen-Druffis aus dem Golden Gate wieder. Und sogar die knutschenden Mädchen aus dem Chalet. Sie reden nicht mit uns. Und wir nicht mit ihnen. Wir alle wissen, dass alles gesagt ist. Der Bass wird kurz wegbleiben. Dann wird er wieder einsetzen. Irgendwann kommt die Nacht. Und dann geht es von vorne weiter.

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