Schweizerischer Nationalpark wird 100:Hirsch vor der Hütte

Schweizerischer Nationalpark, Hotel

Tagsüber parken häufig die Donnergötter der Motorradszene vor dem Hotel. In den Abendstunden aber wird es ruhig am Ofenpass.

(Foto: Rupa)

Im Schweizerischen Nationalpark steht nur ein einziges Hotel. Die Unterkunft darf bestehen bleiben: Sie hat ältere Rechte als das vor 100 Jahren gegründete Schutzgebiet.

Von Dominik Prantl

Dieser Beitrag ist erschienen am 31. Juli 2014. Wir haben die Übernachtungspreise aktualisiert. Darüber hinaus ist der Text unverändert.

Ein halbes Jahrhundert ist das nun her: Die Schülerin Sonja Cazin saß damals häufig in jenem Postbus, der über den Ofenpass ruckelte, und wenn der Postbus an diesem Hotel haltmachte, das aus ihrer Perspektive so groß und edel wirkte, dann war da diese Gewissheit: "Hier kommen nur die rein, die sehr gut bei Kasse sind." Sie sei als Mädchen immer schön brav im Bus sitzen geblieben, auch wenn andere in dem Haus einen Kaffee tranken. Sie dachte sich dabei: "Wow, einmal das Hotel von innen sehen."

Inzwischen ist Sonja Cazin über 60 und kennt das Gebäude in- und auswendig. Sie ist seit 2005 die Managerin des Hotels Parc Naziunal Il Fuorn. Ihr selbst gefällt die Bezeichnung "Mädchen für alles" besser, wahrscheinlich deshalb, weil man sich bei dem Begriff Manager einen Anzugmenschen am großen Glastisch vorstellt, der immer ungeheuer wichtige Telefonate führt. Cazin macht sich nicht wichtig. Sie hat vor einiger Zeit festgestellt, dass ihre Gäste ziemlich genügsam sind und im Grunde einen recht einfachen Anspruch stellen: "Eigentlich muss ich sie nur in Ruhe lassen."

Schweizerischer Nationalpark wird 100: undefined

Das Hotel kommt auch nicht so mondän daher, wie es Cazin in Erinnerung hat. Der Manager muss hier trotz der bis zu 20 Angestellten auch selbst einmal Kaffee servieren, Rechnungen drucken, Wanderer beraten. 60 Übernachtungsgelegenheiten hat das Haus. Das günstigste Bett ist mit Frühstück für 50 Franken zu haben, was in der Schweiz Jugendherbergsniveau bedeutet. Neben Mehrbettzimmern mit Zirbenholzverkleidung und Etagenduschen gibt es auch zwei Suiten. Das Domizil der besseren Leute ist heute das perfekte Wanderhotel für den Mittelstand.

Trotz allem Understatement bündelt sich hier die Geschichte der Ofenpassregion. "Man hat sich früher Orte ausgesucht, wo es gewisse Kräfte gibt. Dieser hier war so einer", sagt Cazin. Die Hauschronik klingt in der Analyse der Standortwahl etwas sachlicher: Der Platz auf 1794 Metern Höhe sei für eine Herberge schon immer wie geschaffen gewesen, weil er ziemlich exakt auf halber Strecke des beschwerlichen Weges von Tschierv nach Zernez lag, am Ofenpass. Der wird mindestens seit dem Mittelalter als Transitstrecke vom Vinschgau ins Engadin genutzt. 1870 wurde die heutige Ofenpassstraße angelegt, und wer die Motorradfahrer selbst auf den umliegenden Bergen noch über die Serpentinen zwischen Italien und der Schweiz hin-und herdonnern hört, fragt sich, ob das mit der kurvigen Straße damals wirklich eine so gute Idee gewesen ist.

Andererseits spricht für Cazins Kraftort-These, dass der Ort mit einer nahezu mysteriösen Beharrlichkeit als Wohn-, Wirtschafts- und Raststätte genutzt wurde. In den Annalen ist seit 1490 ein Gutshaus an dieser Stelle verbürgt, ein knappes Jahrhundert später wurde es als Hospitium, also Herberge, erwähnt. Alles, was den Passübergang nutzte, kehrte hier ein. Säumer, Schmuggler, Bergwerksleute. Denn bevor am 1. August 1914 der alpenweit erste Nationalpark gegründet und der menschliche Einfluss damit per Gesetz so weit reduziert wurde wie kaum sonstwo in Europa, besaß die dünn besiedelte Region durchaus eine gewisse wirtschaftliche Relevanz. Jahrhundertelang hatten Menschen Stollen in den Fels getrieben und das Metall in Schmelzen verarbeitet, weshalb Namen wie Il Fuorn oder Ofenpass nicht gerade etymologische Rätsel aufgeben. Die Relikte der Erzverhüttung wie verfallende Kalköfen sind noch heute zu sehen, genauso wie mancherorts die Spuren der Waldnutzung.

Noch 1970 sei auf dem Gelände des immer wieder erweiterten Hotels Landwirtschaft betrieben worden, sagt Cazin. Das Wild war sich aber schon damals offenbar bewusst, dass es auf dem Gelände des Nationalparks Narrenfreiheit genießt. "Zwei Angestellte aus Italien mussten die Hirsche verscheuchen. Mit Platzpatronen", erzählt Cazin. Ob die Gewehre dabei manchmal zufällig scharf geladen wurden und ganz zufällig auch noch ins Schwarze trafen, kann sie allerdings nicht beantworten. Inzwischen sind die Hirsche so etwas wie das Kapital der Region. In Rudeln pilgert das Rotwild in den Abendstunden aus dem Gehölz und bevölkert die umliegenden Freiflächen. Früher wurde zur Brunftzeit im Frühherbst gar der Parkplatz vor dem Hotel über Nacht mit einer Kette abgesperrt.

Das hatte nichts mit einem hormonell bedingten Orientierungsproblem liebestoller Hirsche zu tun. Nur schienen Touristen bei der tierischen Brautschau keinen Privatgrund zu kennen. Seitdem das Hotel 2004 den Besitzer wechselte, "gibt es aber keine Kette mehr", meint Cazin. So wie einst der Bergbau das Hospitium mit Gästen versorgte, locken heute Natur und die Hoffnung auf Sichtungen von Bartgeiern, Adlern und Steinböcken die Kundschaft ins Hotel. Während die Donnergötter der Motorradszene im Normalfall nur eine Kaffeepause einlegen, haben die Übernachtungsgäste häufig Bergschuhe im Gepäck - oder bereits an den Füßen.

Informationen

Anreise: Die Region des Schweizerischen Nationalparks ist gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bereisen. Der Postbus hält direkt vor dem Hotel.

Unterkunft: Hotel Parc Naziunal Il Fuorn, CH-7530 Zernez, Tel.: 0041/81/856 12 26, www.ilfuorn.ch, Übernachtung mit Frühstück ab 50 Schweizer Franken, HP ab 85 Schweizer Franken. Nur zu Fuß ist die Chamanna Cluozza (1882 m) zu erreichen, Tel.: 0041/81/856 12 35, www.cluozza.ch, Mitte Juni bis Mitte Oktober.

Wanderkarte: Die Wanderkarte Nationalpark ist mit entsprechendem Wanderführer für 19 Euro im Nationalparkzentrum in Zernez erhältlich.

Weitere Auskünfte: Graubünden Ferien, Tel.: 0041/81/254 24 24, www.graubuenden.ch

"40 Prozent unserer Gäste wandern von Hütte zu Hütte. Das Hotel lebt vom Nationalpark", sagt Cazin, und sie klingt stolz. Das Jubiläum zum 100-jährigen Bestehen des streng geschützten Reservats mitsamt Brimborium in der Presse hat die Nachfrage angekurbelt. Schon im vergangenen Sommer war Il Fuorn so gut gebucht wie noch nie. Weitere Gästebetten gibt es im Nationalpark nur noch in der Chamanna Cluozza, einer nur zu Fuß erreichbaren Berghütte. Zelten ist verboten, wie das Mitführen von Hunden, das Jagen und Pilzesammeln, das Verlassen der Wege und das Skitourengehen. In der kalten Jahreszeit wird das Reservat ohnehin zur absoluten Ruhezone erklärt. Dennoch will Cazin auch diesen Winter wieder öffnen. Sie sagt: "Da hätte ich noch genügend Betten frei."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: