Markus Rehm bei der Leichtathletik-Meisterschaft:Mit Rückenwind und Beinprothese

Leichtathletik-DM in Ulm

Deutscher Meister im Weitsprung: Markus Rehm mit Beinprothese.

(Foto: Sven Hoppe/dpa)

Der unterschenkelamputierte Weitspringer Markus Rehm gewinnt bei den deutschen Leichtathletik-Meisterschaften und lenkt sogar von Julian Reus' Rekordsprint über 100 Meter ab. Rehm, der mit einer Beinprothese springt, erfüllt damit zudem die EM-Norm - löst aber nicht nur Jubel aus.

Von Thomas Hahn, Ulm

Eine kleine Mahnung hatte Cheick-Idriss Gonschinska, der Chefbundestrainer des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), dann auch noch vorzubringen am Abend des ersten, sehr bewegten Tages bei den deutschen Meisterschaften in Ulm. Voller Respekt hatte Gonschinska über den Prothesen-Weitspringer Markus Rehm gesprochen, der seinen ersten Start bei nationalen Freiluft-Meisterschaften der olympischen Klasse gleich zum Sieg genutzt hatte mit paralympischem Weltrekord von 8,24 Metern.

Aber der DLV-Chefcoach hatte auch die leise Befürchtung, dass bei der ganzen Debatte um Rehms Überraschungserfolg vor dem Olympia-Teilnehmer und früheren Europameister Christian Reif (8,20) ein anderer sporthistorischer Erfolg ins Hintertreffen geraten könnte. Der deutsche Rekord über 100 Meter nämlich, den der Wattenscheider Sprinter Julian Reus, 26, im Vorlauf mit 10,05 Sekunden bei knapp gültigem Rückenwind von 1,8 Meter pro Sekunde erzielt hatte. Gonschinska sagte: "So ein deutscher Rekord, der so lange im Raum steht und so lange herbeigesehnt wird, hat eine besondere Aufmerksamkeit verdient."

Der Hinweis ist in der Tat angebracht gewesen, denn dieser erste Tag der deutschen Meisterschaften wirkte wie ein Ereignis, das ständig neue Saltos schlug und bei dem man am Ende gar nicht so genau wusste, was man am meisten feiern sollte. Den Rekord-Vorlauf, bei dem Julian Reus um eine Hundertstelsekunde schneller war als der Magdeburger DDR-Sprinter Frank Emmelmann im Jahr 1985? Oder doch den Umstand, dass der einseitig amputierte Markus Rehm mit seinen 8,24 Metern die Bastion der Springer ohne Behinderung einnahm?

Der Tag war insgesamt geprägt von selten guten Leistungen, weil ein stattlicher Rückenwind in unterschiedlicher Stärke über die Sprintgerade wehte und die Schnellläufer bei der Arbeit unterstützte. Oft war der Schiebewind stärker als zwei Meter pro Sekunde, nach den Regeln also zu stark für beglaubigte Bestzeiten - zum Beispiel beim 100-Meter-Endlauf der Männer, den Reus am späteren Nachmittag zeitgleich in 10,01 Sekunden vor Lukas Jakubczyk aus Berlin gewann.

Warten auf die Forschung

Aber oft war der Rückenwind auch gerade noch gültig, sodass die Spitzenleistungen Bestand hatten. Etwa beim Endlaufsieg der Sindelfinger Hürdensprinterin Nadine Hildebrand (12,71 Sekunden), oder bei den 10,05 von Julian Reus im Prolog. Oder eben bei dem paukenschlag-ähnlichen Satz von Markus Rehm mit dessen Karbon-Sprungbein.

Welche von den Leistungen die umstrittenste war, ist allerdings sehr wohl klar gewesen. Als Markus Rehm nach seinem Coup bei der Pressekonferenz saß, durfte er feststellen, dass er mit seinem Rekord nicht nur Jubel ausgelöst hatte, sondern auch Zweifel und Fragen zu den biomechanischen Gesetzmäßigkeiten der Prothesen-Leichtathletik.

Erst vor wenigen Wochen hat der DLV entschieden, dass der Weltklasse-Paralympier Rehm bei offiziellen Meisterschaften starten darf, bis Biomechaniker einigermaßen lückenlos erforscht haben, ob Weitsprung mit Prothese vergleichbar ist mit dem Weitsprung auf zwei Naturfüßen. Unter Vorbehalt ist Markus Rehm also am Samstag deutscher Meister der olympischen Klasse geworden, der Meisterschafts-Wettkampf wird der Wissenschaft Material liefern für ihre Expertise.

Große Unsicherheit im Umgang mit der Leistung

Und man merkte gleich, dass im Feld eine große Unsicherheit darüber herrschte, wie dieser Sieg nun einzuschätzen sei. Hallen-Europarekordler Sebastian Bayer, der mit seinen 7,62 Metern und Platz fünf zu den Geschlagenen zählte, wollte erst gar nichts sagen zu Rehms Leistung, ehe er dann doch zugab, dass er nicht glaubt, dass Prothesenweitsprung und Weitsprung das Gleiche seien. Er wollte der Wissenschaft nicht vorgreifen, aber er sagte: "Gefühlt ist sein Prothesenbein 15 Zentimeter länger als das andere Bein."

Weitsprung-Bundestrainer Uwe Florczak, Bayers Heimtrainer, gratulierte Rehm ("Erst mal großen Respekt"). Aber auch er war sich nicht sicher, ob Rehms Karbon-Fuß nicht doch wie ein künstliches Katapult wirkt, das kein olympischer Weitspringer zur Verfügung hat. "Die Anlaufgeschwindigkeit war mit Sicherheit nicht so hoch, wie wir sie eigentlich bei solchen Sprüngen kennen", sagte Florczak zu Rehms 8,24 Metern, und er gab zu, dass der DLV sich der Sache etwas früher hätte annehmen sollen: "Wir haben mit Sicherheit hier geschlafen."

Markus Rehm selbst zeigte viel Geduld bei all den Fragen. Er war ein ruhiger Sieger, der sich über niemanden stellen wollte und auch die Debatte zur Biomechanik seiner Sprungkunst nicht klein spielte. Der Leverkusener Rehm, 25, im wirklichen Leben Orthopädie-Mechaniker, kennt sie gut, er stellt sich ihr schon lange, auch vor den Ulmer Tagen hatte er das getan, er sagte: "Die Diskussionen waren anstrengend, aber auch richtig."

DLV müsste Rehm für EM nominieren

Er war selbst überrascht, dass er seine bisherige Bestleistung von 7,95 Metern um fast 30 Zentimeter steigern konnte. Er erklärte das mit dem Wind, mit dem Zuspruch des Ulmer Publikums, mit dem Ansporn durch die starke Konkurrenz. Er erklärte auch, warum sein Bein mit Sprintprothese tatsächlich "drei, vier Zentimeter" länger sei als das andere: "Sonst würde ich beim Anlauf extrem humpeln." Und er wollte keiner weiteren Entscheidung vorgreifen.

Mit seinen 8,24 Metern hat sich Markus Rehm für die EM der olympischen Leichtathleten in Zürich von 12. bis 17. August qualifiziert. Nach den Regeln müsste der DLV ihn nominieren, Gespräche mit dem europäischen Leichtathletik-Verband EAA habe es über einen möglichen Start Rehms aber noch nicht gegeben, sagte DLV-Präsident Clemens Prokop. Und Markus Rehm selbst? Forderte nichts. Blieb ruhig.

Er weiß, dass er jetzt ein paar Dinge einfach geschehen lassen muss. Die wissenschaftlichen Untersuchungen vor allem, die ihn sehr interessieren. "Ich möchte selbst Klarheit haben", sagte er in Ulm und musste dann bald weiter. Er hatte einen Termin im Aktuellen Sportstudio im ZDF. Markus Rehm ist seit diesem Samstag eine Person des modernen Sportgeschehens, gegen die selbst ein neuer deutscher Sprintrekordler blass aussieht.

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