Gaza-Krieg:Hamas zerschlagen heißt Schlimmeres riskieren

Al-Kassam-Brigaden

Was danach kommt, könnte noch schlimmer werden: Militante Hamas-Aktivisten der paramilitärischen Qassam-Brigaden auf einem Archivbild vom Juni 2014 in Gaza-Stadt

(Foto: dpa)

Ist die Hamas das kleinere Übel? Ein hoher US-Geheimdienstler warnt Israel davor, die Organisation zu zerschlagen. An ihre Stelle könnten noch militantere Gruppen treten.

Von Tomas Avenarius, Kairo

Auf Kritik am Gaza-Krieg reagieren viele in Israel empfindlich. Die politische Führung und die meisten Bürger wollen sich nicht sagen lassen, dass und wie man militärisch gegen die militante Hamas vorgehen müsse. Doch diesem Mann sollte Israel vielleicht Gehör schenken: Generalleutnant Michael Flynn, der scheidende Chef des US-Militärgeheimdiensts Defense Intelligence Agency, warnte jetzt davor, die radikal-islamische Organisation und ihre Kassam-Miliz zu zerschlagen. "Wenn Hamas zerstört wird und verschwindet, könnte etwas noch Bedrohlicheres entstehen", sagte er beim Aspen Security Forum in Colorado. "So etwas wie Isis." Flynn ist antiisraelischer Haltung unverdächtig.

Der Offizier hatte den "Islamischen Staat" im Sinn, jene ultraradikale Islamisten-Organisation, die ein Kalifat in den von ihr beherrschten Teilen des Irak und Syriens ausgerufen hat und mit barbarischen Methoden herrscht. Israel muss aber nicht bis in den Irak schauen. In den Siebziger- und Achtzigerjahren - als der Gazastreifen noch von Israel besetzt und zum Teil von Siedlern bewohnt war - hatte die Regierung erst die Muslimbrüder und dann Hamas halbwegs ungestört heranwachsen lassen. Israel sah in den Religiösen ein Gegengewicht gegen die national-säkular orientierte Fatah und die PLO. Die kämpften damals unter Jassir Arafat noch mit Gewalt gegen den jüdischen Staat. Die schnell an Popularität gewinnenden Fundamentalisten schwächten Fatah, doch die 1986 gegründete Hamas wurde selbst militanter. Ihr Führer Scheich Ahmed Jassin schwang sich zum oberster Fürsprecher von Selbstmordattentaten auf.

Nachdem Israel den Scheich 2004 nach dem Morgengebet mit Hellfire-Raketen getötet hatte, sagte Schimon Peres, lange Jahre Präsident Israels: "Das könnte den Terror noch ansteigen lassen." Er behielt recht. Hamas wurde radikaler und schlagkräftiger. Und die Miliz selbst, die den Gazastreifen seit 2006 beherrscht, bekam mit neuen Radikalen Probleme. Bisher konnte sie die palästinensischen Dschihadisten und Salafisten in dem winzigen Küstengebiet klein halten. Doch in Israels direkter Nachbarschaft erstarken die salafistischen Militanten. In Syrien und dem Irak breitet sich der "Islamische Staat" aus. Er könnte bald Jordanien bedrohen. Auch im Hisbollah-Land Libanon, das wie Syrien eine Grenze mit Israel hat, gewinnen die sunnitischen Dschihadisten Boden, eine Folge des Bürgerkriegs in Syrien.

Im Westen sieht es ähnlich aus. In Ägypten werden militante Salafisten mächtiger. Seit dem "Arabischen Aufstand" von 2011 kontrolliert Kairo nur noch Teile der Sinai-Halbinsel. In Wüsten und Bergen kämpfen neben rebellischen Beduinen auch ausländische Militante gegen die Armee. Laut der Regierung in Kairo finden sich in den verschiedenen Gruppen auch Hamas-Angehörige, sodass ein Rückkoppelungseffekt zur Palästinenser-Organisation entstehen dürfte. Die bekannteste Gruppe ist Ansar Beit al-Maqdis. Die al-Qaida-affinen "Unterstützer Jerusalems" terrorisieren auch Ägyptens Festland. Auch an der Grenze zu Libyen, das wegen der Revolutionswirren kaum über funktionierende staatliche Strukturen verfügt, greifen die Dschihadisten Polizei und Armee an. Das Wüstengebiet bietet ideale Rückzugsmöglichkeiten.

Kairo sieht die im Juli 2013 in Ägypten entmachteten Muslimbrüder als Strippenzieher hinter den Dschihadisten. Die Brüder sind die Mutterorganisation der Hamas. Nachvollziehbar belegt wird dies nicht. Ob mit oder ohne Hilfe der Bruderschaft: Wie schon bei der Ausbreitung von al-Qaida von Afghanistan über die Arabische Halbinsel bis nach Nord- und Ostafrika wird es im Falle des Islamischen Staats nicht lange dauern, bis Gesinnungsgenossen auch westlich von Israel Ableger gründen. Die Hamas könnte dann als kleineres Übel erscheinen.

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