Münchner Neueste Nachrichten vom 28. Juli 1914:Hoffen auf kaiserlichen Friedensretter

Heute vor 100 Jahren in der Zeitung: Schießen die Serben? Marschieren die Österreicher? Das SZ-Vorgängerblatt berichtet von Kriegsgerüchten. Britische Medien hoffen, dass der deutsche Kaiser den Frieden rettet. Tatsächlich schwankt Wilhelm II. - doch er wird von seinem Kanzler ausgetrickst.

Von Oliver Das Gupta

Schießen die Serben? Marschieren die Österreicher? In den Münchner Neuesten Nachrichten hat der Krieg zwischen Serbien und Österreich-Ungarn schon begonnen - doch die Zeitungsmacher sind vorsichtig.

Sie schreiben nach wie vor von "Krise" und nicht von Krieg. Und in den Untertitel, mit Fragezeichen: "Die Österreicher überschreiten die Grenze?"

Der Weg in den Ersten Weltkrieg

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Trotzdem druckt die SZ-Vorgängerin die beiden Falschmeldungen ab:

  • Österreichisch-ungarische Truppen sollen demnach die ungarisch-serbische Grenze überschritten haben, heißt es ohne Quellenangabe. Die Soldaten der Donaumonarchie seien auf ihrem Weg nach Mitrowitza. "Die Serben wurden überall zurückgeworfen." In Wien sei die Nachricht vom "Ausbruch der Feindseligkeiten mit stürmischem Jubel" aufgenommen worden.
  • Bei Temes Kubin seien größere serbische Kräfte zusammengezogen, die in Ungarn einfallen wollten, meldet ein Privattelegramm aus Semlin. "Es bestätigt sich auch, dass bei Temes Kubin serbische Truppen, die sich auf einem Donaudampfer befanden, vom Schiffe aus österreichische Truppen beschossen. Das Feuer wurde erwidert; es entspann sich ein größeres Geplänkel."

Beide Meldungen sollten sich bald als Enten herausstellen, doch die Nachricht vom angeblichen Scharmützel von Temes Kubin war schon am Vortag Österreichs Kaiser Franz Joseph I. vorgetragen worden - und hatte ihn bestärkt, die Kriegserklärung an Serbien zu unterschreiben (hier mehr dazu).

Das Dokument wird den Serben übergeben - damit beginnt formell das Blutvergießen, das binnen weniger Tage zum Weltkrieg werden sollte. Doch davon steht an diesem 28. Juli noch nichts in der Zeitung. Stattdessen wird ausführlich von den Vermittlungsversuchen berichtet, die auf Initiative des britischen Außenministers Edward Grey in Gang gekommen sind.

  • Aus London heißt es, dass die britischen Botschafter in den großen europäischen Hauptstädten angewiesen seien, Deutschland, Frankreich, Russland und Italien als Mediatoren einzuspannen.
  • Aus Rom kommt die Meldung, wonach Italien (damals formell mit Deutschland und Österreich-Ungarn durch einen Verteidigungspakt verbunden) auf Russlands Wunsch vermitteln wolle. Frankreich setze in Sankt Petersburg angeblich "seine Bemühungen für den Frieden fort".
  • Außerdem werden große Hoffnungen auf einen Monarchen gesetzt, der in den Jahrzehnten zuvor selbst in manche Krise verwickelt war (hier mehr dazu): den deutschen Kaiser Wilhelm II. In Russland setzt man angeblich darauf, dass der Hohenzollern-Fürst den Frieden rettet: Man habe dort "die allergrößten Hoffnungen auf ein Eingreifen Kaiser Wilhelms". Und auch in der englischen Presse glaubt man, dass Wilhelm den Krieg verhindern könnte und verweist auf vorhergehende Balkankrisen (hier mehr dazu). "Ein mutiger Mann" könne "der Menschheit" einen "seltenen großen Dienst erweisen, schreibt die Morning Post pathetisch. "Ein solcher Mann ist der Deutsche Kaiser an der Spitze einer großen Nation".

Obwohl Wilhelm und seine kriegsgeilen Mitarbeiter schon kurz nach dem Attentat von Sarajevo den Österreichern unbedingten Rückhalt für einen Militärschlag gegen Serbien gegeben haben (und ein anschließendes großes Gemetzel mit Frankreich und Russland billigend in Kauf nahmen), könnte an diesem Tag der Erste Weltkrieg noch verhindert werden.

Der Kanzler trickst seinen Kaiser aus

Denn Wilhelm schwankt. Erst am Vortag war er von seiner Nordlandfahrt zurückgekehrt. Und am Morgen des 28. Juli wird ihm endlich die Antwort der serbischen Regierung auf das österreichische Ultimatum vorgelegt. "Das ist mehr, als man erwarten konnte", kritzelt der Kaiser auf das Dokument. "Ein großer moralischer Erfolg für Wien; aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort".

An seinen Außenamtschef Gottlieb von Jagow verfasst darauf der wankelmütige Wilhelm einen Brief. Die serbische Antwort sei "die Kapitulation demüthigster Art"; dadurch "entfällt jeder Grund zum Kriege". Allerdings müsste Österreich den Serben misstrauen und die Hauptstadt Belgrad als "Faustpfand" besetzen (die serbische Regierung war ohnehin längst nach Niš geflüchtet).

Dieser "Halt-in-Belgrad-Befehl" hätte den Ausbruch des Krieges noch verhindern können, schreibt die Historikerin Annika Mombauer (hier ein Interview zum Kriegsausbruch mit der Wissenschaftlerin). Doch der Kaiser wird von seinem Reichskanzler ausgetrickst.

Theobald Bethmann Hollweg leitet den Brief an Wien weiter. Allerdings verzögert - und nicht mit vollem Inhalt. Wilhelm empfehle, das Militär in Belgrad zu stoppen. Doch der Satz, dass nun der Kriegsgrund entfallen sei, fehlt. Stattdessen gibt der Kanzler seinem Botschafter in Wien den Befehl, er möge es vermeiden, "als wünschten wir die Österreicher zurückzuhalten".

Das alles ist dokumentiert in Akten, Depeschen und anderen Dokumenten, die die Wissenschaft später auswerten sollte. Aber in den Münchner Neuesten Nachrichten und anderen Blättern steht an jenem ersten Tag des Krieges nur, dass der Kaiser den Kanzler "zum Vortrag" empfangen habe.

Stattdessen wird aus Frankreich berichtet, dass es zu Anti-Kriegsdemonstrationen käme. Teile der Presse verfassten allerdings "gehässige Leitartikel" gegen Deutschland und Österreich.

Und aus dem Saarland (das es damals in der heutigen Form noch gar nicht gibt) wird gemeldet, dass angesichts der Lage einige hundert "waffenpflichtige" Italiener in die Heimat zurückgerufen werden. Offenbar handelt es sich um frühe Gastarbeiter, die sich im Bergbau verdingen.

"Was vor 100 Jahren in der Zeitung stand":
Alle Artikel aus der Reihe zum Ersten Weltkrieg
Münchner Neueste Nachrichten
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: