Tagebuch zum Nahostkonflikt:Todesangst lässt sich nicht filmen

Sarah Stricker
(Foto: Sarah Stricker)

"Friede? Das ist ja so was von 90er!", sagen junge Israelis. Unsere Autorin will nicht so desillusioniert enden und schreibt dagegen an. Plötzlich ist es still, die Telefone schweigen und die Waffen auch. Dann piepsen die Handys wieder Alarm. Teil vier des Kriegstagebuchs aus Israel.

Von Sarah Stricker, Tel Aviv

Freitag, 1. August

Ich schreibe den letzten Satz meines Kriegstagebuchs, zumindest glaube ich in diesem Moment, dass es der letzte sein wird. Seit dem Morgen herrscht Waffenruhe. "Und diesmal ist es beiden Seiten ernst. Die hält jetzt", hat mein Freund gesagt, bevor ich mich ins Arbeitszimmer verkrochen habe, um ungestört den Text fertig zu machen. Ich klicke auf "senden", gehe zurück ins Wohnzimmer - und sehe, wie er mit versteinertem Gesicht auf seinen Laptop starrt. "Sie haben einen Soldaten entführt", murmelt er, so leise, dass ich nachfragen muss, um sicher zu gehen, dass ich ihn auch richtig verstanden habe. "Sie haben einen entführt!", ruft er und hält mir den Bildschirm vor die Nase. "Erst bitten sie um eine Feuerpause, und dann entführen sie einen Soldaten." Vor Wut lässt er den Laptop auf den Tisch knallen.

R. schickt eine WhatsApp-Nachricht: Aus der Geburtstagsfeier wird nichts, er kommt doch nicht heim. "Nicht wundern, wenn ich ein paar Tage nicht erreichbar bin.

"Nehmen sie dir das Telefon weg, weil du wieder rein musst?", schreibt B.

Nein, antwortet R., er wisse nur nicht, wie lange sein Akku noch halte. "Wenn wir schlafen gehen, hängen an jeder Steckdose immer schon mindestens 20 andere Handys. Bestimmt sterben wir alle an Krebs."

Samstag, 2. August

Sirene am Morgen. Gabi ruft an. Ob ich vielleicht ausnahmsweise schon heute kommen könne.

"Klar", sage ich, "ist was passiert?"

"Nein, nein." Ihr Atem rast. "Nur so."

Ich ziehe mich an, laufe zu Fuß zu ihr, weil am Sabbat keine Busse fahren.

"Alles klar?", frage ich, als sie mir die Tür aufmacht.

"Aber ja doch", sagt sie, jetzt wieder die Ruhe in Person, "was soll denn sein?"

Sie humpelt hinter ihrem Gehwagen her, lässt sich vor dem Fernseher nieder. Zerbombte Häuser, blutüberströmte Kinder, auf einer Demo wird eine Israelflagge verbrannt.

"Weißt du, warum die Welt gegen uns ist?", sagt sie plötzlich. "Weil es bei uns zu schön ist. Die Sonne scheint, kein Wölkchen am Himmel. Die Leute denken doch, was stellen die sich so an, nur weil sie hie und da in den Bunker müssen." Sie drückt auf der Fernbedienung herum. "Der Tod lässt sich filmen. Die ständige Todesangst nicht."

Ich nehme ihr die Bedienung weg, lege meine Hand auf ihre.

"Ist es das, was du hast? Todesangst?"

"Unsinn Schätzchen!" Sie lacht laut auf. "Ich hab doch gesagt, wenn unser Schöpfer meint, meine Zeit sei da, kann der Tod ruhig kommen."

Ihre Hand unter meiner zittert.

Sonntag, 3. August

Wir essen in einem Schnellimbiss. Über der Theke hängt ein Schild: "Sag ja zu Humus, sag nein zur Hamas." Ein deutsches Pärchen kommt zaghaft näher, fragt, ob ich nicht die mit dem Tagebuch sei. "Wie geht es denn R.? Und dem kleinen Nir? Und ist das eigentlich Ihr Freund?"

Letzterer legt die Stirn in Falten.

Warum denn bitte wildfremde Menschen über seine Unterwäsche Bescheid wüssten, fragt er, als sie wieder gehen. Die Falten werden noch tiefer.

"Der Hamas müssen doch allmählich die Raketen ausgehen."

Montag, 4. August

Ich will nach Jerusalem, um für den neuen Roman zu recherchieren, bin schon an der Haltestelle, als eine Meldung auf meinem Handy aufblitzt: Terroranschlag in Jerusalem. Ein Mann hat mit einem Bagger einen Fußgänger überfahren, dann einen Bus umgestoßen.

Die Frau neben mir zuckt zusammen, wischt ebenfalls hektisch auf ihrem Smartphone herum.

Ich sehe meinen eigenen Bus näher kommen, schaue wieder aufs Handy.

Die Israelin in mir kommt sich blöd vor, umzudrehen.

Die Deutsche in mir kommt sich noch viel blöder vor, es nicht zu tun.

Wahrscheinlich ist nach dieser Sache sowieso die halbe Stadt abgesperrt, sage ich mir, während ich den Bus vorbeifahren lasse.

Ich gehe nach Hause, versuche, wenigstens an diesem Tagebuch weiter zu arbeiten - als die nächste Nachricht aufpoppt: An der Uni in Jerusalem wurde ein Soldat niedergeschossen.

Freundin A. ruft aus Deutschland an: "Wie sieht's aus? Man hört, ein Friedensschluss steht kurz bevor." Tatsächlich verkünden beide Seiten eine Waffenruhe für den nächsten Morgen ab acht. "Und ich sag dir, die hält jetzt", smst E., "der Hamas müssen doch allmählich die Raketen ausgehen."

Ich wälze mich im Bett, kann nicht schlafen. Ich wälze mich weiter im Bett, bis auch mein Freund nicht mehr schlafen kann. Wir stehen auf, stehen uns ständig im Weg, weil wir nichts mit uns anzufangen wissen, checken immer wieder "Zewa Adom". Kurz vor acht beginnen unsere Telefone wie wild zu piepsen. Raketenalarm im Minutentakt, die Hälfte davon genau da, wo R. stationiert ist. 7:53, 7:57, 7:58.

Ein einberufener Soldat

"Friede? Das ist ja so was von 90er!", sagen junge Israelis. Ein einberufener Soldat.

(Foto: Sarah Stricker)

Dann ist es plötzlich still. Unsere Telefone schweigen. Und die Waffen tun es anscheinend auch.

Dienstag, 5. August

Ich bin sterbensmüde. Des ganzen Sterbens müde. Ein Radiojournalist aus Deutschland ruft an, bittet um ein Interview zur Feuerpause, "es sei denn, Sie kennen jemanden, der in Gaza lebt. Das wäre natürlich besser."

"Wieso besser?"

"Na ja, bei Ihnen ist ja sowieso nicht viel passiert."

Offenbar lässt sich die Angst vor dem Tod nicht nur schlecht filmen, sondern auch schlecht auf Tonband aufnehmen.

Ein paar Freunde geben eine WG-Party, aber mir ist nicht nach feiern.

"Komm schon", bettelt N., "this ceasefire party will be on fire!"

Ich lasse mich überreden, wenigstens Hallo zu sagen, finde mich plötzlich mitten im Gedränge wieder, ein Bier in der Hand, zwei Boxen im Rücken. Modern Talking, Dana International, dann ein nicht minder trashiger Song auf Hebräisch mit arabischem Akzent: "Attackiere! Mach Anschläge! Töte die Zionisten!"

"Ach, kennst du nicht?", fragt O., als er mein verwirrtes Gesicht sieht, "das ist dieses Hamas-Lied. Geil, oder?" Ursprünglich sei der Song von Palästinensern geschrieben worden, um israelische Araber zum Terror zu ermuntern. Aber durch den seltsamen Mix aus Grammatikfehlern, nicht-existenten Wörtern und der absurd fröhlichen Melodie, habe er sich zum Sommerhit entwickelt. "Auf Youtube gibt es schon tausend Parodien, sogar eine mit den Schlümpfen." Die Jungs neben mit grölen begeistert die Tötungsaufforderungen mit, ein paar Mädchen tanzen. Auch ich wippe unwillkürlich im Takt - als N. plötzlich wieder auftaucht. "Hast du in letzter Zeit von M. gehört?"

Nein, schon lange nicht mehr, sage ich und werde ein bisschen nostalgisch, während ich an die Zeit denke, als ich mit eben jenem M. ein kurzes Techtelmechtel hatte.

"Sein Cousin ist in Gaza in die Luft gesprengt worden", sagt N.

Ich höre zu wippen auf.

"Die neue Generation will doch den Frieden!"

Mittwoch, 6. August

V.s Kinder sind aus Spanien zurück. Sie zeigt Nir die Ausgabe der Süddeutschen mit seiner Raketenfeuer-Zeichnung.

"Heißt das, die ganze Welt hat mein Bild gesehen?", fragt er stolz.

Nicht die ganze, sage ich, aber ein paar Hunderttausend werden es schon gewesen sein.

"Aber auf der erkennt man doch fast nichts", sagt er, "ich kann dir viel Hübschere geben."

"Lass mal, Nir", sagt V. Sie dreht sich zu mir. "Was meintest du vorhin noch hat deine Gabi gesagt? Die Menschen interessieren sich nicht für das Schöne, solange es keine Toten zu sehen gibt, sind wir der Welt scheißegal."

R. darf nach Hause. Er steckt noch in seiner Uniform, als er vor unserer Stammkneipe aus dem Auto steigt. Mein Freund umarmt ihn so oft, dass wir mehrere Minuten brauchen, um unseren Tisch zu erreichen. Die Kellnerin schmeißt eine Runde, ein paar Mädchen wollen mit anstoßen.

"Kurz im Krieg, und schon fahren sie alle auf einen ab", sagt R. Aber sein Grinsen kann nicht über seine Enttäuschung wegtäuschen.

Puppe in Tel Aviv

Ein Schaufenster mit einer patriotisch geschmückten Puppe in Tel Aviv.

(Foto: Sarah Stricker)

"Einen Monat war ich da", sagt er nach dem ersten Bier, "und für was? Ja, die Tunnel sind zerstört. Aber es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis der Raketenbeschuss wieder losgeht."

"Einen Monat war ich da", sagt er nach dem zweiten Bier, "einen Monat, in dem ich jeden Tag Menschen getroffen habe, die da an der Grenze leben. Und jetzt lassen wir sie einfach im Stich."

"Einen Monat war ich da", sagt er nach dem dritten Bier, "und in ein, zwei Jahren gehe ich wieder hin und alles fängt von vorne an."

Donnerstag, 7. August

T., der Freund, dem die Airbnb-Gäste abgesprungen sind, hat doch noch eine Französin gefunden, die in seiner Wohnung Urlaub machen will. Er selbst ist schon in Berlin, deshalb lasse ich sie rein.

"Ach, ist das schön hier", sagt sie. "Diese Sonne! Dieser Himmel!" Sie schaut über den Balkon. "Du bist sicher froh, dass alles vorbei ist, was?"

Hm, na ja, richtig vorbei sei es ja nicht.

"Ach, ich habe im Flieger gelesen, dass die EU sich jetzt aktiv für den Frieden einsetzen wolle. Das ist doch ein gutes Zeichen."

Hm, na ja, aktiv heiße doch meistens nur, dass sie Geld gebe; am Ende fließe das ja doch wieder in den Bau neuer Tunnel.

"Ach, aber glaubst du nicht, dass ein Wandel bevorsteht? Die neue Generation will doch den Frieden!"

Hm, na ja, eigentlich würde sich die neue Generation eher noch weiter vom Frieden entfernen. "Die Älteren in Gaza können sich wenigstens noch an die Zeit erinnern, als die Grenze offen war und Palästinenser und Juden halbwegs normalen Kontakt miteinander hatten. Aber die Jüngeren kennen Israelis doch nur noch als Soldaten, die Bomben auf sie werfen. Und in Israel ist es kaum besser. Das Gefühl der Angst wird größer, das Mitgefühl kleiner."

Sie sieht mich mit großen Augen an, schaut wieder über den Balkon, als könne sie dort den Silberstreifen am Horizont finden.

"Na ja, andererseits, die Deutschen haben versucht, die gesamte Judenheit auszulöschen, und jetzt lebe ich hier mit meinem jüdischen Freund, und ganz Berlin ist voll mit jungen Israelis", sage ich, weil ich ihre Hoffnungslosigkeit nicht ertrage.

"Wenn unsere beiden Völker es geschafft haben, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, gibt es vielleicht für jeden eine Chance", sage ich, weil ich auch meine eigene Hoffnungslosigkeit nicht ertrage."

Sie schaut erleichtert. Und ich tue es auch, nicke, während sie wieder über die Aussicht schwärmt.

Aber leicht fühlt sich heute gar nichts an. Auf dem Rückweg fällt mir das Atmen so schwer, dass ich mich immer wieder kurz hinsetze. Aber der Himmel, der ist wirklich wunderschön.

Freitag, 8. August

Ich stehe früh auf, lese mir durch, was ich diese Woche geschrieben habe, bin selbst frustriert, wie frustriert ich klinge, wie frustrierend das alles klingt. Ich versuche, etwas über die zuversichtlich stimmenden Momente zu schreiben, wie jenen, vom dem R. erzählt hat, als ein israelischer Bauer nach dem Beginn des Waffenstillstands zuallererst seinen ehemaligen Traktorfahrer in Gaza angerufen hat, um zu fragen, ob es ihm gut gehe. Ich schreibe über die Cousine meines Freundes, die alle paar Tage von Jerusalem ins arabische Beit Safafa läuft und dort einkauft, weil sie weiß, dass viele Juden die Läden boykottieren. Ich schreibe alles Positive auf, was mir einfällt, weil ich nicht so desillusioniert sein will, wie die Tel Aviver, die ich damals in meiner ersten Woche hier kennengelernt habe und die mich mit Sätzen wie "Friede? Das ist ja so was von 90er!" fast in den Wahnsinn getrieben haben.

Ich schreibe. Und dann beginnt "Zewa Adom" wieder zu piepsen. Und die Hamas schießt wieder Raketen. Und ich frage mich wieder, ob ich jemals einen Satz schreiben werde, der wirklich der letzte ist.

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