Umgangston in der Rhythmischen Sportgymnastik:"Ich bin der Boss, ihr seid nichts"

Umgangston in der Rhythmischen Sportgymnastik: Die Deutsche Meisterin 2013 Katerina Luschik erhebt schwere Vorwürfe.

Die Deutsche Meisterin 2013 Katerina Luschik erhebt schwere Vorwürfe.

(Foto: imago sportfotodienst)

Sie sei ins Gesicht geschlagen, beleidigt und gedemütigt worden: Nach den schweren Vorwürfen einer ehemaligen deutschen Meisterin gegen Trainerinnen stellen Kritiker die Rhythmische Sportgymnastik in Deutschland infrage. Der Verband übt sich in Schadensbegrenzung.

Von Volker Kreisl, Fellbach-Schmiden

Keine Waage mehr zu sehen. Nicht auf den Gängen, nicht in den Umkleiden. Kein elektronischer Tritt mehr, auf den sich die Gymnastin stellt und im Display ihr Körpergewicht abliest. Auch keine Liste mehr, in die sie ihr Gewicht einträgt. Keine Sofortkontrolle von auch nur geringen Schwankungen mehr, keine Rückschlüsse auf Verstöße beim Essen, auf falsche Lebensweisen. Und damit, so stellt es sich Christian Breuning vor, ist am Bundesstützpunkt der Rhythmischen Sportgymnastik in Fellbach-Schmiden vielleicht auch die Angst aus den Köpfen.

Breuning hat viel vor. Er ist kürzlich eingesetzt worden als Standort-Manager. Er verbringt viel Zeit hier oben in Schmiden, wie lange noch, weiß er nicht. Breunings Aufgabe ist ziemlich umfangreich, kurz könnte man sagen, er soll prüfen, ob so etwas möglich ist: eine bessere Welt in der Rhythmischen Sportgymnastik. Denn die RSG galt schon immer als Problemsport, weil sich dabei zu junge Athletinnen zu stark verbiegen müssen und manchmal schlecht behandelt werden. Darüber gab es bislang hauptsächlich nur Gerüchte, seit diesem Sommer aber ist der Ruf der Disziplin ramponiert.

Eine Athletin, nicht irgendeine, sondern die ehemalige deutsche Meisterin Katerina Luschik, erstattete Anzeige gegen die Schmidener Trainerinnen Karina Pfennig und Natalia Stepanowa. Sie sei ins Gesicht geschlagen, beleidigt und gedemütigt worden, man habe ihr Antibiotika ohne Rezept und ärztliches Wissen verabreicht.

Das Ermittlungsverfahren läuft, und für den Deutschen Turnerbund ist das dramatisch. In einem Jahr findet in Stuttgart die WM in der Rhythmischen Sportgymnastik statt, dann schaut ein großes Publikum auf die RSG. Nach dem ersten Schock trennte sich der Verband von Pfennig, sprach Stepanowa aber das Vertrauen aus. Außerdem schickte der DTB Breuning, einen erfahrenen Funktionär aus der Zentrale in Stuttgart, hinauf nach Schmiden.

Er will kein Controller sein, sondern beratender Begleiter. "Ich bin nicht als Polizist, sondern als Partner da", sagt er. Und er sieht, dass nicht alles schlecht ist. Die Stimmung sei manchmal streng, insgesamt aber harmonisch. Er will mit Gesprächen und einfachen Mitteln die Lage optimieren. Zum Beispiel sagt er: "Es ist doch klar, dass in Deutschland im Training deutsch gesprochen wird." Russisch, die Muttersprache der Trainerinnen, sei von außen schwer zu verstehen und zu kontrollieren. Damit sei nun Schluss, und Missverständnisse würden sich erübrigen.

Katerina Luschik hat ihre Erlebnisse protokolliert. "Fette Kuh" sei noch ein milder Ausdruck gewesen. Sie habe zu hören bekommen: "Du bist so fett, dass du dich kaum noch bewegen kannst, du hast ganz Deutschland blamiert." Luschik ist 16, sie hatte bis zuletzt am Traum vom Olympia-Auftritt und an ihrem Sport festgehalten. Irgendwann aber haben sie und ihre Mutter Swetlana festgestellt, dass nicht nur der Körper unter ständiger Kontrolle war, sondern auch das Selbstbewusstsein. Demütigungen hätten zum Prinzip gehört, die Grundhaltung der Trainerin sei gewesen: "Ich bin der Boss, ihr seid nichts."

Der DTB fördert nicht nur Spitzensport, sondern das gesamte Breitensport-Turnen. Er ist eine riesige Bewegungsfamilie, die das äußere und innere Wachstum eigentlich fördern will, und deshalb sitzt er in der Klemme. Er muss in Schmiden aufklären, aber auch den Laden zusammenhalten. "Von den anderen Mädchen hat niemand die Vorwürfe bestätigt", sagt Breuning, Swetlana Luschik sagt: "Damit haben wir gerechnet, die stecken ja noch mitten drin." Katerina Luschiks Berichte sind sachlich und detailliert. Und wenn sich nur ein Teil erhärten lässt, dann ließe sich der Laden nicht mehr zusammen halten.

Zum Joggen statt zum Abendessen

Breuning ahnt das. Er hat durch die große Glasscheibe im Besprechungsraum einen idealen Überblick über die Gymnastikhalle, er sagt: "Dies ist eine Herausforderung. Alles darf jetzt gedacht werden." Strategen denken optimistisch, auch die vom Familiensportbund DTB. Nur: Haben sie, wenn sie untereinander diskutieren, auch alle Infos? Um zu verstehen, wie perfide das Trainerverhalten unter Leistungsdruck werden kann, helfen nur authentische Schilderungen.

Katerina Luschik erzählte den Fall von zwei Gymnastinnen, die zu viel wogen und statt zum Abendessen hungrig zum Joggen geschickt worden seien. Davor und danach tranken sie reichlich Wasser, weshalb die Waage nach dem Joggen noch mehr anzeigte. Man habe ihnen, erzählte Luschik, kein Wort geglaubt, gebrüllt und mit Rauswurf gedroht.

Dennoch, Swetlana Luschik sagt, es gebe in Schmiden Betreuerinnen mit Empathie, die wüssten, was wirklich vor sich geht in den Betroffenen, die auch ahnten, dass dieser spektakuläre Sport voller Widersprüche ist. Kinder sollen hier hochdiszipliniert arbeiten, also erwachsen sein. Später müssen ihre Körper aber dünn und biegsam bleiben, als Erwachsene sollen sie also möglichst Kinder sein. 46 Kilogramm wiegt Luschik, das gilt als "fett". Sie sollen sich an den Besten aus Russland messen, die wegen ihrer harten Methoden aber unerreichbar sind. Und sie sind wie viele Heranwachsende auch selber widersprüchlich. Sie schwören hoch und heilig auf ihren Sport, aber nur wer sie genau kennt, weiß, wie es ihnen wirklich dabei geht.

Breuning erzählt von seinem Sohn: "Der hat geturnt, bis er an seine natürliche Grenze stieß." Heute turnt er nur noch hobbyhalber und hat einen Posten im Verband. Breuning wünscht sich diese Achtung der natürlichen Grenzen auch in der Rhythmischen Sportgymnastik, aber Swetlana Luschik ist skeptisch: Die Familien der meisten Mädchen sind aus Osteuropa hierher gezogen, sie haben viele Jahre in den Sport investiert, "da wollen die Eltern nichts vom Aussteigen hören".

Auch das Training steht infrage

Dabei wäre dies ein Anfang: genau das hören zu wollen, was man nicht hören will - auch wenn sich daraus eine gewaltige Aufgabe ergibt, die nicht bis zur Weltmeisterschaft 2015 in Stuttgart bewältigt ist. Die Pädagogen brauchen mehr Einblick, die Athletinnen nicht nur vernünftiges Essen, sondern auch mehr Zeit, die Trainer mehr Entlastung - und alle mehr Geld.

Ja, das gesamte Training muss infrage gestellt werden, denn vielleicht muss man gar nicht das russische Prinzip des ständigen Wiederholens nachmachen, sondern kann neue, moderne Wege gehen. "Vielleicht ist hier weniger mehr", sagt Breuning. Er schaut aus dem Panoramafenster. Die Waagen sind abgeschafft, aber das war nur ein kleiner Schritt.

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