Neue Twitter-Funktion:Kampf um den intimsten Ort im Netz

Twitter experimentiert mit Einstellungen der Timeline - weil hier Optionen für Geschäftsmodelle liegen. Die Nutzer fürchten, dass der Kurznachrichtendienst so Facebook zu ähnlich wird. Dabei muss das nicht einmal schlecht sein. Solange die Nutzer die Kontrolle behalten.

Von Dirk von Gehlen

Wer verstehen will, was digitale Medien von analogen unterscheidet, sollte mal versuchen, zwei baugleiche Mobiltelefone von Bekannten zu vertauschen. Anders als beim Tausch einer identischen Zeitungsausgabe wird dieser Versuch schnell Ärger nach sich ziehen: Denn selbst wenn alle technischen Daten und Programme identisch sind, die Telefonbesitzer werden mit dem fremden Gerät nicht glücklich.

Schuld daran ist - neben den personalisierten Kontaktdaten und Botschaften - das Prinzip der Timeline. Der personalisierte Strom von Nachrichten in Twitter, Facebook und vergleichbaren Diensten symbolisiert beispielhaft das Grundmuster der nutzerabhängigen Nachrichtenauswahl als Alleinstellung der digitalen Mediennutzung. Anders als auf einer Zeitungsseite, deren Angebot für jeden gleich ist, liefert die Timeline ein Informationsangebot, das auf der Auswahl des Lesers basiert: die Timeline eines sozialen Netzwerks ist für den Nutzer der intimste Ort im Netz, ein exklusives Angebot auf Basis der eigenen Verbindungen.

Wer ein Facebook-Konto eröffnet oder ein Profil bei Twitter anlegt, wird sofort und sehr nachhaltig dazu aufgefordert, sich zu vernetzen: Das Anfreunden oder Folgen ist Grundbedingung der Netzwerke und Voraussetzung, um die Timeline nach den eigenen Interessen zu bestücken.

Das wertvollste Gut: die Hoheit über die Timeline

Denn das will der personalisierte Blick auf die Welt sein: Der "Stream mit Tweets der Accounts, denen Du auf Twitter folgst." So beschreibt es die Hilfeseite des Kurznachrichtendienstes, der gerade in der Kritik steht, weil er genau an diesem Prinzip der Timeline herumbastelt. Denn so bedeutsam die Timeline fürs digitale Leben ist, so sehr wird auch um ihre optimale Gestaltung gekämpft.

Die Hoheit über die Timeline verspricht die Hoheit über das wertvollste Gut, das Nutzer im Netz zu vergeben haben: Aufmerksamkeit. Reichweite, Kontakte und Klicks werden über die Timeline hergestellt. Und je präziser die Aufmerksamkeitsfenster auf Basis der Interessen der Nutzer geöffnet werden können, um so wertvoller ist die Timeline als Geschäftsmodell: Für den Nutzer, der zu sehen bekommt, was ihn interessiert und für Werbekunden, die so sehr genau abmessen können, wem sie ihre Reklame schicken wollen. Denn auch das ist anders als bei einer Werbung auf einer Zeitungsseite: Sie wird nicht mehr von jedem auf gleiche Weise gesehen, sondern nur noch von denen, die der Werbetreibende ansprechen will.

Um die Timeline zu optimieren, brauchen die Anbieter vor allem eins: Metadaten. Je mehr umso besser. Es reicht ihnen nicht nur zu wissen, wer sich mit wem vernetzt und interagiert - und sie werten auch aus, welche Inhalte sie teilen. Dabei interessiert sie nicht, wie ein Text geschrieben oder ein Video geschnitten ist, sondern welche Reaktionen der Inhalt hervorruft.

Twitter experimentiert mit Facebook-ähnlicher Timeline

Um das genauer auswerten zu können, hat Twitter nun in einem Experiment damit begonnen, eine Kategorie auszuwerten, die bislang eher ungenutzt blieb: den Favoriten. Das ist Twitters Entsprechung zum "gefällt mir" bei Facebook, die von den Nutzern derzeit aber sehr viel differenzierter eingesetzt wird: als Sicherung für besondere Tweets, als Ausdruck der Zustimmung oder als privates Zeichen an andere Nutzer (siehe dazu auch diese Beschreibung aus dem amerikanischen Wall Street Journal).

Zahlreiche US-Medien wie Readwrite, Mashable und The Atlantic berichten von einem Test bei dem Twitter die Favoriten nun auch für eigene Zwecke einsetzt: Nutzern werden dabei auch solche Beiträge angezeigt, die andere Nutzer mit einem Favoriten versahen. Das führt dazu, dass im intimsten aller Orte im Netz plötzlich Inhalte zu sehen sind, die man selber dort gar nicht bestellt hat. Das kann Belebung für neue Nutzer mit sich bringen, Stammnutzer empfinden das aber eher als störend. Sie sehen das Grundprinzip von Twitter bedroht.

Bei aller optischen Angleichung der Dienste Twitter, Facebook und Google Plus unterscheiden sich Facebook und Twitter bisher in der Ausgestaltung der Timeline: Bei Twitter wird tatsächlich ungefiltert angezeigt, was von den Nutzern veröffentlicht wird, denen man folgt - in Echtzeit. Facebook gewichtet dies in der Standard-Einstellung "Hauptmeldung" mit dem Ziel, Nutzer schneller zu den für sie vermeintlich relevanten Inhalten zu bringen - auch unabhängig vom hochaktuellen Geschehen (was während der WM zu merkwürdigen Ergebnissen führte).

Brauchen wir mehr Filtersouveränität?

Das bringt Facebook zwar viel Kritik ein, aber auch mehr Möglichkeiten in der Gestaltung der Timeline - und damit Optionen für Geschäftsmodelle. Um abzusehen, dass Twitter sich auch in diese Richtung bewegen will, braucht man nicht auf eine offizielle Stellungnahme von Twitter warten (die es bisher nicht gibt), man muss nur die Gestaltung beider Dienste vergleichen.

Aber vielleicht ist das gar nicht so bedrohlich, wie jetzt vielerorts behauptet wird, vielleicht bringt es in der Tat eine Verbesserung des Grundprinzips der Timeline auf Basis des persönlichen Zuschnitts. Mehr Daten könnten auch mehr Nutzen für den Anwender mit sich bringen. Doch um das - völlig unabhängig vom Ausgang des aktuellen Experiments - bewerten zu können, müssen die Personalisierungsspezialisten besser als bisher zeigen, was sie denn leisten: Sie müssen den Nutzer in die Lage versetzen, einen ungefilterten Blick auf seine Timeline zu werfen.

In Anlehnung an den Publizisten Michael Seemann könnte man mehr Filtersouveränität fordern. Facebook deutet das mit der Funktion "Neueste Meldungen" bisher nur sehr schlecht an. Besser wäre es, dem Nutzer weitere Gestaltungsmöglichkeiten zu geben, um seine Timeline anzuschauen - z.B. mit Wertung von Kommentaren und Retweets oder ohne Favoriten und Likes. Damit würde man die Personalisierung nicht nur auf die Inhalte, sondern auch auf das Prinzip der Timeline anwenden - und der Nutzer könnte sich selber zusammenstellen, was viele jetzt gefährdet sehen: Twitter wie es sein sollte.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: