Umkämpfte Region der Ukraine:Alltag, zerfressen von Misstrauen

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Alltag im Zentrum von Donezk: Menschen kaufen und verkaufen Gemüse auf der Straße

(Foto: AFP)

Jeder könnte ein Spion, ein Separatist, ein Terrorist sein: Im Norden des Donbass hat die ukrainische Armee die Kontrolle wiedererlangt, doch die Unsicherheit bleibt. Beobachtungen von einer Reise durch ein umkämpftes Gebiet.

Von Cathrin Kahlweit

Die Armee hat ihr Hauptquartier am alten Aerodrom von Kramatorsk aufgeschlagen. Ein Metalltor am Ende der staubigen Straße blockiert die Zufahrt, davor schwitzen junge Soldaten in voller Montur: Schutzweste, schwere Stiefel, Maschinengewehre; manche haben trotz der brüllenden Hitze das Gesicht mit einem Tuch verhüllt, um nicht erkannt zu werden.

Jeder, der kommt, könnte ein Spion, ein Separatist, ein Terrorist sein, sagt ein Wachhabender, bevor er zögernd sein Gewehr abstellt und seinen Vorgesetzten ruft. Der wiederum ruft einen Vorgesetzten an, aber: Alles hier, sogar der Ort selbst, fällt unter das Militärgeheimnis. Keine Interviews.

Im Hintergrund dröhnen die Nachrichten aus einem alten Radio, das jemand an den Holzzaun gehängt hat: "Ukrainische Armee rückt auf das Zentrum von Donezk vor. Dutzende Tote. Separatisten sagen, sie hätten drei Militärflugzeuge abgeschossen. Terroristen haben erneut schwere Waffen über die Grenze gebracht. Humanitäre Lage in Lugansk nach wie vor katastrophal."

Der Ring um die verbliebenen Hochburgen der russischen Separatisten im Süden und Osten werde enger, heißt es, die Kämpfe würden täglich intensiver - und Kramatorsk liegt nicht weit hinter der aktuellen Front. Das Radio sorgt dafür, dass hier niemand vergisst, wofür gekämpft wird. Es soll kein Zweifel aufkommen angesichts von mehr als 2000 Toten.

Marketenderinnen haben vor dem Hauptquartier ihre Zelte aufgeschlagen, sie verkaufen Bier, Wasser und Piroggen, doch es ist nur ein Geschäft auf Zeit. Alles ist improvisiert, denn die Befehlsbasis der ATO - der Antiterror-Operation, wie Kiew den Krieg im Osten nach wie vor nennt - ist mobil. Je weiter die ukrainischen Soldaten vorrückten nach Süden, Richtung Donezk, und nach Osten, Richtung Lugansk, desto weiter rückte auch der Stab nach.

Früher mal, als es die UdSSR noch gab und die Ukraine und Russland sich als Bruderstaaten verstanden, waren auf dem Militärflugplatz mehrere sowjetische Abfangjäger vom Typ MiG-23P und 39 Su-15TM stationiert gewesen. Aus, vorbei, jetzt wird Krieg geführt, und auf dem Aerodrom warten Soldaten auf den Vormarsch gegen die prorussischen Gegner.

Eine Stadt mit toter Industrie und großen Apfelgärten

Kramatorsk hatte sich unlängst so oft in den Schlagzeilen der Weltnachrichten gefunden wie wohl nie zuvor in seiner Existenz: Die Großstadt mit ihren offiziell 160 000 Einwohnern wirkt, als sei ein Dorf in der Mitte einer endlosen Ebene einfach in den Raum hineingewachsen, ohne echtes Zentrum, mit viel toter Industrie, alten Abraumhalden und großen Apfelgärten. Kramatorsk galt als eine der am härtesten umkämpften Städte des Donbass.

Kramatorsk, Slawjansk, Swjatogorsk - all das waren Namen von Kommunen, die vor dem Konflikt zwischen proukrainischen Truppen und prorussischen Milizen wohl kaum jemand außerhalb des Landes kannte. Von vielen Toten, von Zerstörung war die Rede gewesen, von Tausenden Flüchtlingen.

Mittlerweile sind die Städte das, was die ukrainische Regierung "befreit" nennt: Die Separatisten wurden vertrieben, die Schäden an den Häusern werden nach und nach repariert, die Bewohner, die geflüchtet waren, kehren langsam zurück. Ein Gefühl von Alltag hat sich wieder breitgemacht, Kinder essen Eis, Frauen gehen einkaufen, betrunkene Rentner hocken auf den Bänken im Park.

Die Armee ist überall

Aber im Norden des Donbass herrscht alles andere als Alltag. Denn die Armee ist überall, und das Misstrauen, das die Menschen infiziert hat, ist geblieben. Jeder könnte ein Spion, ein Separatist, ein Terrorist sein. Das glaubt nicht nur der Soldat vor dem Hauptquartier.

Das glauben auch die Bewohner der Städte, in denen nach wie vor Einschusslöcher in den Häusern, zerbombte Dächer und zerschossene Straßenschilder vom Krieg künden. Zumal ja nicht jeder, der geblieben oder der zurückgekehrt ist, gegen die Separatisten war. Nur gegen den Krieg, gegen den waren sie alle.

Wer, von Norden kommend, die Kurstadt Swjatogorsk mit ihrem berühmten Himmelfahrtskloster passiert, wo zeitweilig Zehntausende Flüchtlinge einquartiert waren, und weiter nach Slawjansk und dann nach Kramatorsk fahren will, muss nach wie vor zahlreiche "Blockposty", militärische Straßensperren, passieren.

An jeder sind ein halbes Dutzend ukrainische Soldaten postiert, die - das Gewehr im Anschlag - den Wagen durchsuchen, die Papiere kontrollieren, die Insassen wieder und wieder befragen.

Kleine Forts aus Sandsäcken

Die Fahrt geht über eine wacklige Ponton-Brücke und vorbei an zerbombten Straßendörfern. Alle paar Kilometer ragen kleine Forts aus Sandsäcken auf die Straße, bewacht von Nationalgardisten oder Freiwilligen. Hier haben sich die Uniformierten eingegraben, um die Invasion aufzuhalten, falls die Russen - oder ihre Söldner - doch noch nach Norden vorstoßen, aber so recht mag das keiner mehr glauben.

Lange Kolonnen von Militärfahrzeugen rattern stattdessen in Richtung Süden, die ukrainische Flagge weht auf jedem Fahrzeug, und im Norden des Donbass hoffen die Menschen, dass es das gewesen ist. Dass die Kämpfe enden. Oder dass die Ukrainer siegen. Für einen Verhandlungsfrieden mit Wladimir Putin hingegen fehlt in Slawjansk und Kramatorsk der Optimismus.

Ein ideologisch vermintes Gebiet

Umkämpfte Region der Ukraine: Mann mit ukrainischer Flagge vor Leninstatue in Kramatorsk.

Mann mit ukrainischer Flagge vor Leninstatue in Kramatorsk.

(Foto: AP)

Valentin Konstantinowitsch ist 80 Jahre alt, er bekommt 3000 Griwna Rente, das sind aktuell 170 Euro im Monat. Er war Maschinenbauer, Facharbeiter, und er hat nicht ungern in der Sowjetunion gelebt. Heute ist er nicht gegen Kiew, sondern eher gegen die Politiker allgemein, und gegen Russland ist er vorsichtshalber auch nicht. Weiß man, ob Kramatorsk nicht doch noch irgendwann wieder an die Russische Föderation fällt, so wie es die Separatisten wollen - und so wie es mit der Krim passiert ist?

Die ukrainische Propaganda behaupte das eine, die russische das andere, sagt Valentin Konstantinowitsch und wiegt skeptisch seinen Kopf. Wer will da wissen, wo die Wahrheit liegt?

Patriotismus nur bei der Versorgungslage

Die Menschen im Donbass sind sehr vorsichtig geworden - und sie haben einen starken Überlebenswillen entwickelt. Kiew könnte den Krieg gewinnen, glauben sie, aber wird dann die Politik besser? An wen soll man sich halten? Wo es doch kaum staatliche Hilfe für Flüchtlinge gibt und alle auf Freiwilligen-Organisationen angewiesen sind? Wo ist diese Regierung aus Kiew überhaupt?

In der Bezirksverwaltung von Slawjansk hockt Valeria Iwanowna in einem schuhkartongroßen Büro. Aus dem Fenster schaut sie auf eine gigantische Lenin-Statue, der jemand eine ukrainische Flagge um den Hals gewunden hat. Auf dem Fußboden sind leere Windelkartons gestapelt, darin sollen Spenden für Kinder gesammelt werden.

Mehr als 4000 Flüchtlingsfamilien lebten derzeit in der 140 000-Einwohner-Stadt, sagt sie, darunter 3200 Kinder. Die Verwaltung arbeitet, sie bemüht sich, aber der Großteil der Hilfe kommt von privaten Spendern.

Patriotismus ist in aller Munde, aber nur, soweit die Versorgungslage gemeint ist. Ansonsten ist Slawjansk, lange eine der Hochburgen der Separatisten, ideologisch immer noch vermintes Gebiet. Der russische Geheimdienst-General Igor Strelkow, der sich unlängst auf Genesungsurlaub nach Russland verabschiedete, hatte hier seine Befehlszentrale. Berichte von Erschießungen und Folterungen machten während seiner kurzen Herrschaft die Runde, und auch der sogenannte Volksbürgermeister Wjatscheslaw Ponomarjow führte ein übles Regiment mit Ausgangssperren und Entführungen.

Nun sind die Separatisten und ihre Helfer verschwunden oder abgetaucht, die Stadt hat keinen neuen Bürgermeister. Die Abgeordneten könnten sich auf einer Liste, die vor dem Rathaus aushängt, für eine freiwillige "Lustration" eintragen - für eine politische Durchleuchtung. Aber kaum einer tut das.

Überall wird geschossen

Derweil werden die Nachrichten aus der eigentlichen Kampfzone immer fürchterlicher. Die Armee meldet, man versuche, die Separatisten aus neun Städten und Dörfern zu vertreiben, einige Vorstädte von Donezk seien bereits wieder in der Hand der ukrainischen Truppen.

Die Zerstörung dort ist allerdings weitaus größer als im Norden des Donbass. Schulen, Elektrizitätswerke, Bahngleise sind zerbombt. Überall wird geschossen, die Zahl der toten Zivilisten steigt täglich, in Lugansk gibt es seit Wochen keinen Strom, kaum Wasser, keine Medikamente, kaum Nahrung.

"Leider weiß niemand mehr, ob es die Granaten der ukrainischen Armee oder die der Separatisten sind, die das eigene Haus zerstören", sagt die Übersetzerin Irina, die ihre Eltern aus der Stadt heraus und nach Charkiw geholt hat - mit dem letzten Zug, der noch fuhr.

Jetzt ist der Vater als Flüchtling registriert, sechs Stunden musste der alte Herr dafür anstehen, aber auf seine Rente wartet er seit drei Wochen. "Meine Eltern haben die Ereignisse auf dem Maidan immer genau verfolgt, sie wollten eine Veränderung, sie wollten das Ende des alten Präsidenten, von Viktor Janukowitsch. Aber jetzt wollen sie gar nichts mehr von Politik wissen. Sie wollen nur heim."

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