Spektakuläre Nummer über "The Shard":Die Plastikfüße der zersägten Frau

The Shard

"The Shard", das höchste Gebäude der EU, an einem zaubereifreien Tag.

(Foto: Bloomberg)

"Der Blick ist toll hier oben, #schauthoch" twittert Zauberer Dynamo. Die Menschen in London sehen - Wahnsinn! - wie der Magier über dem höchsten Gebäude der EU schwebt. Bis jemand genauer hinguckt. Geschichte einer Entzauberung.

Modehändler, Fotolabore, Zeitungsjournalisten: Sie alle leiden auf die eine oder andere Art unter der Digitalisierung und dem Vormarsch neuer Technologien. Doch einer Berufsgruppe macht der Fortschritt das Leben besonders schwer - den Zauberern. Vor ein paar Jahrzehnten noch zersägten sie - auf der Bühne, in sicherem Abstand zum Publikum - ihre liebreizende Assistentin und klebten sie danach wieder zusammen. Dann gingen sie ins Fernsehen und mussten fürchten, dass besonders Neugierige sich die Nummer immer und immer wieder ansehen und so auf den Trick dahinter kommen würden. Neue, viel aufwändigere Technik musste her. Dann kam das Internet. Und inzwischen ist so Banales wie die zersägte Frau nur noch bei Wikipedia zu sehen. Inklusive Anleitung.

Die Omnipräsenz von foto- und filmfähigen Smartphones und das Internet haben die Zauberei zu einem Job gemacht, der wirklich übersinnliche Kräfte erfordert - zumindest was Kreativität und technisches Geschick angeht. Kaum ein spektakulärer Trick, der sich nicht blitzschnell verbreiten lässt und den nicht irgendjemand im Schwarm da draußen alsbald durchschaut. Viele Zauberer nennen sich inzwischen Illusionisten. Weil sie Realisten sind: Die Enttäuschung ist dann nicht ganz so groß, wenn die Illusion doch mal platzt. Möchte man meinen.

Der britische Magier Dynamo, der eigentlich Steven Frayne heißt, der einst auf dem Wasser über die Themse lief, der schon für allerlei Prominente zauberte und mit einem Fingertrick selbst Prinz Charles erschauern ließ, machte sich am Mittwoch auf zu einem besonderen Stunt. "Der Blick ist toll hier oben", twitterte er um kurz vor drei Uhr nachmittags, "#schauthoch".

Die Londoner schauten nach oben und tatsächlich: Dynamo schwebte zwischen den Spitzen des höchsten Wolkenkratzers in der EU, The Shard. Eine Wahnsinnsnummer! Die Menschen gafften, staunten, freuten sich. Wie hatte er das nur hingekriegt? Ein echter Zauberer eben!

Doch die Begeisterung hielt nur so lange wie die Illusion. Konkret: bis jemand die Aufnahmen der Nummer genauer studiert und dort zwei verdächtige Linien ausgemacht hatte. So groß und öffentlich die Freude über die "höchste Levitation der Geschichte" gewesen war, so groß war jetzt die öffentliche Enttäuschung. "Man kann die Drahtseile tatsächlich sehen" titelt das Boulevardblatt Daily Mail online, erfüllt von Trauer über die Illusion, die man den Briten genommen hatte. In sozialen Netzwerken mischte sich die Enttäuschung mit Empörung.

Aus den Reaktionen wird klar: Die Menschen sind nicht enttäuscht darüber, dass Dynamo sie ausgetrickst hat. Sondern darüber, dass er sich dabei hat erwischen lassen. Nicht: "Er hat Drahtseile benutzt!" sondern "Man konnte die Seile sehen!" Sie sind so enttäuscht wie der kleine Junge, der sich hinter die Bühne des Zauberers schleicht und feststellt, dass die Füße der liebreizenden Assistentin nur aus Plastik sind.

Dynamo wäre wohl kein Profi, würde er sich die zerbrochenen Sehnsüchte seiner Fans nicht zu Herzen nehmen. Und die Seile beim nächsten Mal vielleicht in Hellgrau kaufen.

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