"Der letzte Ort" von Sherko Fatah:Irakisches Endspiel

Iraqi Air Force air raid in Fallujah city

Zerstörte Städte, leere Landschaften - der Irak ist wieder auf der politischen Landkarte aufgetaucht. Sherko Fatah hat oft das Land seines Vaters besucht.

(Foto: dpa)

Zwei Männer werden in der Wüste des Irak entführt. Sherko Fatahs Roman schildert ihr universelles Drama und ist zugleich eine Realtragödie der Grundkonflikte unserer Zeit. Man fragt sich, wie die westliche Öffentlichkeit vom Siegeszug der IS-Dschihadisten überrascht werden konnte.

Von Florian Kessler

Eben noch war es bloß heiß. Zwei Reisende sind aus ihrem klimatisierten Geländewagen gestiegen. Sie stehen am Auto, orientieren sich blinzelnd im grellen Mittagslicht. Im nächsten Augenblick fallen andere Männer über sie her. Den Angreifern geht es vor allem um einen der beiden Passagiere, aber sie attackieren sie beide. Ihnen werden Baumwollsäcke über die Köpfe gezerrt, sie werden weggeschleift und in andere Autos verfrachtet. Sie sind entführt worden.

Dem Schriftsteller Sherko Fatah genügen zwei beiläufige Absätze, um diesen Urmoment seines Romans in Szene zu setzen. Wie eine Murmel tippt er die Insassen des Geländewagens nur ein einziges Mal an, um sie für immer aus der klimatisierten Komfortzone ihrer Überzeugungen zu stoßen.

Auf der Kugelbahn dieses Romans geht es vom Moment der Entführung an immer nur abwärts. In brutaler Eskalation gehen die beiden Männer im Laufe ihrer unterschiedlich verlaufenden Gefangenschaften körperlich zuschanden. In brutaler Eskalation werden aber auch ihre angestammten Gewissheiten zerrüttet.

Entblößt ohne Wertekostüm

Am kunstvoll offengehaltenen Ende der Handlung stehen darum nicht nur zwei mögliche Todesfälle, sondern große Fragen: Was bleibt vom Menschen übrig, wenn er vollständig entblößt ohne Wertekostüm dasteht? Wie nackt und frei von Überzeugungen kann man eigentlich sein, und was sagt es für alle Kanzelreden vom Dialog der Kulturen, dass zumindest die beiden Gefangenen schließlich auch ganz gut ohne festgefügtes Weltbild auszukommen scheinen, Hauptsache, sie überleben vielleicht?

"Der letzte Ort" spielt durchaus an vage einzugrenzenden Orten, nämlich in jenen Gebieten rund um den Nordirak, die in den vergangenen Monaten schlagartig wieder auf der politischen Landkarte auftauchten. Die Entführung und öffentliche Ermordung des US-Journalisten James Foley durch die Terrorgruppe des "Islamischen Staates" (IS) ist in Fatahs Roman in beklemmender Klarheit vorweggenommen.

Grenzübergreifend verheertes Mesopotamien

Man fragt sich beim Lesen fassungslos, wie die westliche Öffentlichkeit derart vom Siegeszug der IS-Dschihadisten überrascht werden konnte, wenn ein Berliner Schriftsteller in den Jahren, da er an seinem Roman schrieb, so detailliert ihre Vorgeschichte entwerfen konnte.

Der "Emir" jener Terrorgruppe jedenfalls, der in Sherko Fatahs Roman die beiden Entführten zum bitteren Ende hin wie nach einem Staffellauf von vorangegangenen Entführergruppen übernimmt, spult mit seinen Vorstellungen eines grenzübergreifend verheerten Mesopotamiens exakt das Programm der IS-Milizen ab. Klipp und klar spricht er nicht lediglich davon, "die Kreuzfahrer, die Amerikaner und Briten" vernichten zu wollen, sondern ebenso auch Kurden, Christen, Kollaborateure und Schiiten: "Ketzer, die das Antlitz des wahren Glaubens verschandeln."

Sherko Fatah wurde 1964 als Sohn einer deutschen Mutter und eines kurdischen Vaters in Ostberlin geboren. Von klein auf war er viele Male zu Besuch im Irak. Er hat dort auch heute noch Familie und er hat dort für viele seiner Bücher aufwendige Recherchen betrieben. Die Idee seines Schreibens aber geht über bloßes Dokumentieren weit hinaus.

Perspektivische Experimente

Fatah versucht, anhand der Projektionen der Kulturen aufeinander von diesen Kulturen zu erzählen, wozu er in seinen Romanen immer wieder in neuen Konstellationen Menschen von der arabischen Welt in den Westen oder in umgekehrte Richtung losschickt. Es hat bisher noch zu wenige Leser gefunden, wie er beispielsweise in "Das dunkle Schiff" (2008) einen Gotteskrieger als illegalen Migranten über das Meer in wahrhaftig empfundene Islamgläubigkeit versetzte, oder wie er in "Ein weißes Land" (2012) aus der Perspektive Bagdads ein ganzes Weltkriegskapitel deutsch-irakischer Beziehungen neu erzählte.

Derartigen perspektivischen Experimenten werden diesmal die beiden entführten Reisenden auf unterschiedliche Weise ausgesetzt. Da ist zum einen Albert, ein Deutscher, seiner eigenen Anfangsüberzeugung nach zur Bewahrung des kulturellen Erbes in den Irak gekommen, in Wahrheit aber wohl eher vor den eigenen Altlasten seiner noch immer vom Untergang der DDR gezeichneten Nomenklatura-Familie geflohen.

Und da ist zum anderen Alberts irakischer Übersetzer Osama, der aus einer ungleich liberaleren sunnitischen Familie stammt. Er erhofft sich seinen Anfangsgewissheiten zufolge Eintritt in die Luxuswerte-Gemeinschaft des Westens und war vor der Entführung gerne dazu bereit, mit Albert antike Grabfunde vor Plünderern zu retten.

Unsichtbare Krawattennadel des Erzählens

Kurz davor allerdings hatte Osama noch selbst die kulturellen Erbstücke seines Landes geraubt, zerstört und gehandelt. Der Hehler, mit dem er damals gemeinsame Sache machte, benutzte eine Krawattennadel, um mit ihr auf die ungreifbaren Figuren auf den antiken Stücken zu deuten.

Auch über den beiden dem Geschehen preisgegebenen, von wechselnden ideologischen Einflüsterungen bestimmten Nichthelden Albert und Osama scheint manchmal eine solche unsichtbare Krawattennadel des Erzählers zu schweben, wenn sie mit jedem Kerkerverschlag und jeder Übergabe sanft immer tiefer in ihren Verfall gestupst werden.

Der Roman ist nichts als die kalte Chronologie ihrer Gefangenschaft, dabei jedoch über viele Seiten hinweg weich ausgepolstert mit ihrer befremdeten Gefangenenkonversation. Tückisch kultiviert und darin nur bisweilen allzu behaglich erscheint der Tonfall Fatahs, wenn etwa der verdurstende Albert im Angesicht eines Schiffswracks im Salzwasser des Meeres immer noch von der "Wohltat seiner Lähmung im Angesicht des Riesenhaften" parlieren kann.

Becketthaftes Endspiel

Fatahs distinguiertes Erzählen steht in meist durchaus reizvollem Kontrast zur puren Panik der Entführungssituation. Die harte Handlungslogik aber ist bisweilen zu weich und wohlmeinend hergestellt, wenn etwa der extremistische "Emir" am Ende zufällig ein alter Bekannter Osamas sein muss, bloß um noch einmal eine weitere Geschichte kulturellen Überzeugungstumults einschieben zu können.

Die Idee des becketthaften Endspiels zwischen zwei Männern in einer nackten Zelle steht dann in schiefem Kontrast zum Anspruch, zugleich wie in einem guten Thriller möglichst viel Lebenswelt vorführen zu wollen. Immerhin aber lässt sich bei Sherko Fatah versuchsweise beides finden: Ein universelles Drama zweier Menschen ohne Wertekompass, und eine Realtragödie der Grundkonflikte unserer Zeit, durchprobiert an zwei Männern, die nichts anderes taten, als ein einziges Mal aus ihrem klimatisierten Geländewagen zu steigen.

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