Nordirak und Ukraine-Krise:Deutschlands Moral und Verantwortung

Die Bundeswehr ist heute für die Sicherheit des Baltikums und Polens mitverantwortlich. Auch die Waffenlieferungen an die Kurden sind nicht nur eine humanitäre Frage, sondern betreffen die Sicherheit Deutschlands. Unsere Geschichte gestattet uns keine Sondermoral.

Ein Gastbeitrag von Volker Rühe

In die Diskussion über Deutschlands Rolle in Europa und der Welt ist Bewegung gekommen. Nicht aufgrund von Reden und Absichtserklärungen unseres politischen Führungspersonals, sondern wegen der sicherheitspolitischen Ereignisse in unserer Nachbarschaft. Leider leidet die Debatte unter Unordnung und zeitgeschichtlicher Vergesslichkeit. Dies gilt vor allem dort, wo die Begriffe Verantwortung und Moral in Szene gesetzt werden.

Eine Regierung kann sicherheitspolitische Verantwortung nicht annehmen oder ablehnen. Sie besitzt sie mit der Übernahme ihrer Macht, um die sie in Wahlen gekämpft hat. Sie hat die Pflicht, deutsche Interessen und Werte und damit ihre Bürger zu schützen. Ihre militärischen Mittel sind ausreichend starke Streitkräfte in einem verlässlichen Bündnis gleichgesinnter Staaten. Für diesen Zweck hat Konrad Adenauer 1955 die Bundeswehr geschaffen und diese in die sechs Jahre zuvor gegründete Nato eingebracht. Damals hatte die Bundesrepublik eine eingeschränkte Souveränität, aber sicherheitspolitisch erwachsen war sie von Anfang an.

Volker Rühe, Jahrgang 1942, war von 1989 bis 1992 Generalsekretär der CDU und unter Kanzler Helmut Kohl Verteidigungsminister von 1992 bis 1998.

An den Bündnisgrenzen verteidigen wir unser Land

Nach dem Ende des Kalten Krieges brauchte die Sicherheitspolitik daher nicht neu erfunden werden. Umso weniger muss sie es jetzt. Auch wenn die Außengrenze der Allianz nicht mehr durch Deutschland verläuft, sind wie zuvor alle Mitgliedstaaten für die Sicherheit ihrer Bündnispartner verantwortlich. Und so wie früher Belgier, Briten und Amerikaner geholfen hätten, das "Fulda-Gap" zu schließen, ist die Bundeswehr heute für die Sicherheit des Baltikums und Polens mitverantwortlich. Denn an den dortigen Bündnisgrenzen verteidigen wir unser Land.

Mit gleicher Selbstverständlichkeit ist auch die Frage von Waffenhilfe für den Irak kein deutsches Sonderschicksal. Waffenlieferungen helfen den Kurden und der irakischen Armee angesichts eines drohenden Völkermords an den Jesiden und von Massakern und Vertreibung durch die Mörderarmee des sogenannten Islamischen Staats. Das ist eine humanitäre Frage, es ist eine Frage regionaler Stabilität und schließlich der Sicherheit Deutschlands. Auch, weil viele, die dort kämpfen, aus unseren Städten kommen und dorthin zurückkehren.

Eine Entscheidung für die Lieferung panzerbrechender und anderer Waffen in den Irak ist daher weder ein Tabubruch noch politisches Grenzgängertum. Es gehört vielmehr zu dem, was Staaten von der Größe und Bedeutung Deutschlands in sicherheitspolitischen Krisen von Zeit zu Zeit entscheiden müssen - und schon manches Mal entschieden haben. Als Israel im Golfkrieg 1991 von irakischen Raketen bedroht war und um deutsche Patriot-Systeme zum Selbstschutz bat, zögerte die Regierung von Helmut Kohl nicht, dieser Bitte zu entsprechen.

Kurz vor dem zweiten Golfkrieg erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder im November 2002 anlässlich einer weiteren Anfrage bezüglich Patriots: "Wenn die israelische Regierung diesen Zusatz an Sicherheit braucht, werden wir helfen." Während des Jugoslawienkrieges aber kam Deutschland den Bitten der Kroaten und Muslime um Bewaffnung selbst nicht nach. Wir beteiligten uns stattdessen nach den Massakern von Srebrenica mit 14 Tornados an der gemeinsamen Operation von Nato und Vereinten Nationen, Deliberate Force, in Bosnien. Es war der erste Kampfeinsatz der Bundeswehr.

Alle freiheitlichen Demokratie stellen sich gewisse Fragen

Unsere Geschichte gestattet uns keine Sondermoral, wie sehr mit Schuld beladen sie auch ist. Denn die politische Aufgabe sicherheitspolitisch verantwortlich und moralisch richtig handeln zu sollen, haben wir nicht exklusiv. Sie ist ein Wesenszug freiheitlicher Demokratien, die sich um Sicherheit und eine stabile Weltordnung sorgen. Ob Frankreich, die Niederlande, Tschechien oder jeder andere Staat von Nato und EU - alle stellen sich wie Deutschland die Fragen: Was ist moralischer? Waffen in den Irak zu liefern oder nicht zu liefern? Was ist richtig, was ist falsch? Es sind Fragen, die oft keine klaren oder machbaren Antworten haben. Aber auch Entscheidungen, die nicht mit hundertprozentiger Sicherheit getroffen werden, können besser begründet sein, als die Entscheidung, nichts zu tun.

In Fragen von Moral und Verantwortung ist man daher gut beraten, sich mit jenen Partnern auszutauschen und zu diskutieren, die einem ähnlich sind. Für Deutschland sind dies vor allem die großen europäischen Staaten sowie die übrigen Partner in EU und Nato (Costa Rica gehört übrigens nicht dazu). Dabei wird einem auffallen: Deutschland ist gar kein besonderer Staat. Er ist nur größer, wohlhabender und einflussreicher als viele andere. Dies zu ignorieren, wäre vielleicht nicht unmoralisch - es wäre aber sicherlich unsolidarisch.

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