ADHS:Sensibles Kindergehirn

Lesezeit: 2 min

Die Diagnose ADHS wird im Vergleich zu 1990 heute 40-mal häufiger gestellt. (Foto: picture alliance / dpa)

Bei Kindern mit Aufmerksamkeitsstörung reifen bestimmte Nervenbahnen langsamer, haben Mediziner ermittelt. Das könnte eine der Ursachen für ADHS sein. Doch die steigende Anzahl der ADHS-Diagnosen lässt sich auch anders erklären.

Von Werner Bartens

Natur oder Umwelt - was trägt stärker zu menschlichen Eigenheiten und Erkrankungen bei? Unter Wissenschaftlern führt diese Frage zu leidenschaftlichen Diskussionen. Prägen hauptsächlich Gene und damit die Biologie unser gesundes wie krankes Dasein, oder ist es eine Folge von Erziehung und Lebensstil, wie wir leben und leiden? Die Debatte wird oft ideologisch überfrachtet, sodass nur wenige Forscher der "Nature or Nurture"-Frage so gelassen begegnen wie der kanadische Neurobiologe Michael Meaney: "Kann man sagen, was mehr zu einem Rechteck beiträgt, die Längs- oder die Querseite?"

Vor diesem Hintergrund müssen die Ergebnisse amerikanischer Psychiater gesehen werden, die Gehirne von Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit (ADHS) untersucht haben. Im Fachblatt PNAS schreiben die Ärzte der Universität Michigan, dass Nervenverbindungen bei Kindern mit Konzentrationsstörungen langsamer reifen. Diese Entwicklungsverzögerung zeigt sich demnach besonders in den neuronalen Netzwerken, die den ziellosen Gedankenfluss kontrollieren wie auch bei jenen Nervenverbindungen, die für die Lösung von Aufgaben wichtig sind.

Das Team um Chandra Sripada verglich Kernspinaufnahmen von 275 Kindern und Jugendlichen mit ADHS mit Hirn-Scans von 481 gesunden Kindern. Die Gehirntätigkeit wurde erfasst, sodass sich typische Aktivitätsmuster erstellen ließen. "Es ist bemerkenswert, dass die neuronalen Netzwerke, bei denen wir einen Entwicklungsrückstand beobachtet haben, genau jene Verhaltensweisen regulieren, die bei ADHS aus der Balance geraten", sagt Sripada. "Vielleicht gibt es ja so etwas wie eine neuronale Signatur, eine Art Biomarker für die Krankheit."

Kinder haben immer weniger Freiräume und einen steigenden Erwartungsdruck

In jüngster Zeit haben mehrere Studien neurobiologische Gründe für ADHS angeführt, etwa einen dünneren Großhirnmantel. "Diese Daten sind faszinierend und helfen beim Verständnis davon, wie das Gehirn strukturiert und unser Denken organisiert ist", sagt Florian Heinen, Leiter der Abteilung für kindliche Entwicklung und Neuropädiatrie am Haunerschen Kinderspital in München. "Man darf die Biologie aber auch nicht überbetonen und muss die Grenzen dieser Erklärungsversuche erkennen."

Ein Kind kann - auch mit normalen Nervenverbindungen - am gegenwärtigen Übermaß an Terminen, Vorschriften und Leistungsanforderungen zerbrechen. "Es gibt ja schon für Zwölfjährige viel zu viele Verhaltensregeln", sagt Heinen. "Aus dieser Enge im Alltag müssen wir raus, in der kindlichen Entwicklung geht es um Vielfalt und Breite." Immer weniger Freiräume bei steigendem Erwartungsdruck haben dazu beigetragen, dass die Diagnose ADHS inzwischen 40-mal so oft gestellt wird wie 1990.

Ihr Forum
:Liegen die Ursachen für die steigenden ADHS-Diagnosen in der Gesellschaft?

ADHS wird im Vergleich zu 1990 heute 40-mal häufiger diagnostiziert. Neue Studien führen biologische Gründe für die Störung an, aber auch Zeitdruck und wachsende Aufgaben wirken sich auf die Psyche unserer Kinder aus.

Diskutieren Sie mit uns.

Das kindliche Gehirn reift individuell verschieden. Ob diese biologischen Grundlagen zu Krankheiten wie ADHS führen oder nur zu den üblichen Irritationen in der Pubertät, hängt auch vom Alltag ab. "Letztlich geht es immer um Zeit und Anwesenheit", sagt Heinen. "Wenn niemand für das Kind da ist, kann keine Begegnung stattfinden. Das funktioniert auch nicht auf Minuten getaktet, in der zur quality time schöngeredeten Zeit. Dann fehlt, worauf es für eine gesunde Entwicklung ankommt: Austausch, Dialog, Bindung."

© SZ vom 16.09.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: