Achterbahnfahren als Reiseziel:Die Trainhopper

Achterbahn Silverstar im Europa-Park in Rust, Baden-Württemberg

Achterbahn-Liebhaber reisen für ihr Fahrtenbuch um die Welt, etwa in den Europa-Park in Rust .

(Foto: Patrick Seeger/dpa)

Es gibt Menschen, die sammeln Bücher. Andere sammeln: Fahrten auf möglichst vielen Achterbahnen. Dafür reiben sie zur Not auch die Gleise einer Kinderbahn trocken. Unterwegs mit deutschen Coasterfriends im Stockholmer Freizeitpark Gröna Lund.

Von Silke Bigalke, Stockholm

Ein Freizeitpark in Orlando: Thomas Ryba, breites Kreuz und Bärtchen, steht vor einer Kinderachterbahn. Er möchte mitfahren, doch Erwachsene sind hier nicht erwünscht - es sei denn, sie begleiten ein Kind. Also fragt der Mann aus Nürnberg eine Familie, ob sie ihm vielleicht eines ihrer Kinder ausleihen könnte. In China wäre die Aktion wohl misslungen, sagt Ryba, doch in Orlando: Kein Problem.

Das Kind habe ihn schüchtern angesehen und genickt, sagt Ryba. Dann seien die beiden losgefahren.

Ryba gehört zu den Coasterfriends, einem deutschen Verein von Achterbahn-Enthusiasten, die gemeinsam durch die Welt reisen - dieses Mal durch Skandinavien: Neun Tage, acht Parks, 37 Bahnen in Schweden, Norwegen und Dänemark. Als erstes besuchen sie den Stockholmer Park Gröna Lund, dort wird Ryba seine achthundertste Achterbahn fahren. Thomas Ryba sammelt Achterbahnfahrten.

Es ist ein teures Hobby, eines, das manchmal Kopfschütteln auslöst. "In Amerika wächst man mit Freizeitparks auf. In Europa wird man oft komisch angeschaut", sagt Andreas Korb, Chef und Erfinder der Coasterfriends. "Man muss bereit sein, in eine Traumwelt abzutauchen. Da braucht man schon etwas kindliche Naivität." Etwa 450 feste Mitglieder habe sein Verein. Im Internet tauschen sie sich über Bahnen, Parks und Technik aus. Fünf bis sechs Mal im Jahr verreist Korb mit einigen von ihnen, zum Beispiel in die USA, nach China und Japan.

Nach Skandinavien sind 46 Coasterfriends mitgekommen, im Alter von eineinhalb bis 69 Jahren, Familien, Pärchen, Singles, Auszubildende und Abteilungsleiter, IT-Experten und Zahnärzte. Auf der Reise schlüpfen sie in einheitliche T-Shirts - die Farbe für Gröna Lund ist lila. Ein Hobby wird zum Mannschaftssport.

Viele Coasterfriends sind auch Coaster-Counter, Achterbahn-Sammler, und damit Teil eines weltweiten Wettbewerbs, der zwar keine Schiedsrichter hat, aber einen hohen Einsatz fordert. Es geht darum, möglichst jede Achterbahn der Welt zu fahren. Auf der Online-Liste coaster-count.com hakt man sie ab: Die japanische Steel Dragon 2000, die längste der Welt (2479 Meter), die Formula Rossa in Abu Dhabi, die schnellste der Welt (240 km/h), die Kingda Ka in New Jersey, die höchste der Welt (139 Meter). Und so weiter.

Ein Brite bringt es auf 2502 verschiedene Bahnen. Der beste Deutsche auf 1624

Fahrt auf den 139 Meter hohen Aufstiegsturm der Achterbahn Kingda Ka in Jackson, New Jersey.

Runter kommt man immer irgendwie: Fahrt auf den 139 Meter hohen Aufstiegsturm der Achterbahn Kingda Ka in Jackson, New Jersey.

(Foto: Stan Honda/AFP)

Wie viele Bahnen es genau gibt - das weiß niemand. Mehr als 8000 zählt zwar die Liste, doch mindestens die Hälfte davon gibt es gar nicht mehr, schätzt Korb. Er selbst kommt auf 1418 Bahnen, Platz acht im internationalen Ranking. An dessen Spitze sitzt ein Brite - mit 2502. Der beste Deutsche hat 1624. Ihn will Korb überholen. Im Oktober fährt er mit einer Gruppe nach China, dort kommen für ihn hundert neue Bahnen dazu. "Ein gutes Jahr für mich", sagt er.

Chris Brede, 24, aus Kassel, ist durch das Counten schon an Orte gefahren, an die er sonst niemals gekommen wäre. "In den tiefsten Osten, nur für diese kleine Kinderachterbahn", sagt er. In der Nähe von Manchester in England hingen die Coasterfriends mal 25 Runden lang auf einer Mini-Bahn fest, deren Bremsen nicht für ihr Gewicht gebaut waren. Erst eine größere Gruppe Parkmitarbeiter schaffte es, sie mit Körperkraft irgendwann abzufangen.

In Phoenix, Arizona, versuchten sie, die Gleise einer Bahn eigenhändig mit Tüchern trocken zu rubbeln, nachdem der Park sie wegen Nässe geschlossen hatte. Erst als der Regen stärker wurde, gaben sie den Punkt verloren.

In Stockholm haben sie Glück. Alle Bahnen fahren. Gröna Lund liegt direkt am Wasser, Blick auf die Altstadt. Ein typischer Stadtpark, mit Kirmes-Atmosphäre und mit 131 Jahren der älteste Park in Skandinavien. Park-Historiker Andreas Theve zeigt der Gruppe Fotos vom Skyscraper, 1936: Eine Looping-Bahn, irre gefährlich, nur ein Ledergurt sichert die Passagiere. Er zeigt Fotos vom Schnee bei der Saisoneröffnung im April 1966. Damals erhielt jeder freien Eintritt, der auf Skiern kam. Die Coasterfriends hören geduldig zu.

Dann bekommen sie die Bändchen ums Handgelenk: Freie Fahrt auf allen Bahnen. Geschlossen stürmen sie zur ersten: Tuff-Tuff Tåget, 80 Meter lang, maximal 2,51 Meter hoch und zwei Meter pro Sekunde schnell. Eine Bahn für Kleinkinder. Sie zwängen sich auf die Sitze, grölend, jubelnd, in ihrer lilafarbenen Uniform. Plötzlich versteht man, warum Achterbahn-Sammler am liebsten in Gruppen unterwegs sind. Es ist eine Party.

"War da etwa einer von uns drin?"

Andreas Korbs eineinhalbjährige Tochter Amy verdoppelt ihre Punktzahl während der Reise auf zwölf Bahnen. Ihre Eltern haben sich in der Disco kennen gelernt. Die erste gemeinsame Auslandsreise: Disneyland Paris. Erste Fernreise: Disney World Orlando. 2002 Hochzeit im Europapark. 2007 hat Andreas angefangen, andere Achterbahn-Fans mit auf seine Ausflüge zu nehmen. Heute ist er zu 60 Prozent Achterbahn-Reiseveranstalter und zu 40 Prozent Versicherungsagent. Seine Frau Andrea liegt nur ein paar Punkte hinter ihrem Mann.

Thomas Ryba reist ebenfalls mit Familie, mit seiner Lebensgefährtin und ihrem Vater. Der 69-Jährige ist seit fünf Jahren dabei, damals überredete Ryba ihn zu El Toro, einer Holzachterbahn im Freizeitpark Plohn bei Chemnitz. Hier habe der Mann die Arme vor Begeisterung hoch gerissen und sei eine Stunde lang nicht wieder ausgestiegen, erzählt Ryba. Der aktuelle Punktestand des Rentners: 289 - die 300 will er noch schaffen, bevor er 70 wird. "Ich mach alles mit", sagt er.

Sogar Insane. Von unten sieht die Bahn harmlos aus, wie eine riesige Murmelbahn. Einzelne Gondel werden 36 Meter senkrecht in die Höhe gezogen. An jeder Seite hängt eine Vierer-Sitzgruppe - jeweils zwei Sitze Rücken an Rücken. Die Sitzgruppen sind frei beweglich, rotieren, überschlagen sich. Wer drin sitzt, fährt rückwärts, über Kopf, macht einen Salto - je nachdem, wie die Wucht der Abfahrt die Gondel dreht.

Die Coasterfriends feiern sich vor einer Holzachterbahn im Freizeitpark von Stockholm.

Glücklich angekommen: Die Coasterfriends feiern sich vor einer Holzachterbahn im Freizeitpark von Stockholm.

(Foto: Bigalke)

Ein paar Coasterfriends beobachten das lieber nur vom Boden aus, rufen den lila T-Shirts Mut zu, die sich in die Höhe schrauben. Ein Wagen überschlägt sich besonders oft. Sie stöhnen auf. "War da etwa einer von uns drin?" Dann haben es die ersten geschafft. Knappe Kommentare: "Echt krank." "Einmal reicht." "Wer vorher keine Nackenprobleme hatte, hat sie jetzt." Auch ein Hobby kann anstrengend sein.

Die Mathelehrerin Vivian Ammoser, 34, mag am liebsten den Moment, in dem es los geht, die Bahn zum ersten Mal nach unten stürzt, den Kick. Sie schreit dann, laut und ausgiebig. Nach Skandinavien hat sie extra Halsschmerztabletten mitgenommen. "Das ist doch das Schöne daran, dass man sich mal ganz vergisst", sagt sie. Profi-Achterbahner Korb dagegen kennt diesen Nervenkitzel kaum noch.

"Schade eigentlich, dass kein Kribbeln mehr da ist. Freude schon, Neugier auch, aber keine Nervosität", sagt er. Sorge, dass etwas schief geht, hat er nie. Manche Achterbahn-Hersteller arbeiteten zwar ein wenig unsauber, doch dann ruckele die Bahn einfach nur mehr als andere. "Wenn man so einen Bahn-Typ sieht, stellt man sich darauf ein, dass es weh tut", sagt Korb.

Vor der Wilden Maus machen 40 Bahnfreunde in lila Shirts eine La-Ola-Welle

Einmal haben die Coasterfriends eine ERT, eine Exklusive Ride Time, auf einer dieser Ruckel-Bahnen bekommen. Bei einer ERT hat die Gruppe eine Bahn ganz für sich alleine, wenn der Park für andere Besucher geschlossen hat. Dann fahren sie quasi in Dauerschleife - und müssen die Zähne zusammenbeißen, wenn sie eine Ruckel-Bahn erwischen.

In Gröna Lund haben sie Glück. Als es längst dunkel ist, der Park leer und viele Lampen gelöscht, holt Parkhistoriker Theve sie zum exklusiven Ritt auf zwei Bahnen ab: der neuen Holzachterbahn Twister und der schmucklosen Stahlachterbahn Jetline aus den 1980er Jahren. Theve ist schon vielen Achterbahn-Enthusiasten begegnet. Dieses Jahr waren Clubs aus den USA, England und Belgien in Gröna Lund. Die deutsche Gruppe sei anders, sagt er, weil sie so unzertrennlich überall gemeinsam hingehe, anstatt sich aufzuteilen.

Vor der Wilden Maus zum Beispiel machen 40 Lila-Shirts eine La-Ola-Welle. Im Fun-House singen sie "So geh'n die Coasterfriends", während sie über den wackeligen Boden klettern. In den Serpentinen jeder Warteschlange klatschen sie sich ab, immer wieder. In den kommenden Tagen werden sie gemeinsam Nägel in eine Holzbahn schlagen, um sich zu verewigen, Umwege für eine Kinderachterbahn fahren und alle zum ersten Mal die neue Helix ausprobieren, die im April in Göteborg eröffnet wurde. " Man kann kaum atmen, aber sie ist trotzdem familientauglich", sagt Korb. Und: "Tolles Layout".

Bei ihrer exklusiven Stunde in Gröna Lund fahren die Coasterfriends gemeinsam Twister, danach Jetline. Jeder muss einmal ganz vorne sitzen, um freie Sicht zu haben, und ganz hinten, wo die Fahrt am wildesten ist, und in der Mitte. Und immer wieder.

Das ist anstrengend, der Körper wird warm, die Ohren glühen. Mathelehrerin Ammoser hat rote Wangen. Twister gefällt ihr besonders gut. Im Dunkel, vor Stockholms leuchtender Skyline, saust die Holzachterbahn über Hügel und durch Kurven, den Berg hinauf "auf den Mond zu", sagt sie glücklich.

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