Polizei und Militär:Amnesty beklagt systematische Folter in Nigeria

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Auf Videos sind unvorstellbare Gräueltaten festgehalten: Amnesty International wirft Militär und Polizei in Nigeria brutale Menschenrechtsverletzungen vor. Die Gewalt stieg mit der Offensive gegen die radikalislamische Boko Haram.

Von Isabel Pfaff

  • In einem Bericht mit dem Namen "Willkommen im Feuer der Hölle" wirft Amnesty International den Sicherheitskräften in Nigeria systematische Menschenrechtsverletzungen vor.
  • Laut den Autoren nehmen die Berichte über Folterungen im Nordosten des Landes seit dem Kampf gegen die radikalislamische Boko Haram zu.

Sieben Jahre Recherche in Gefängnissen und Polizeiwachen

Die Bilder aus dem Nordosten Nigerias sind schwer zu ertragen: Männer mit und ohne Uniform, bewaffnet mit Stöcken und Macheten, treiben Zivilisten auf einem Dorfplatz zusammen. Sie befehlen ihnen, sich auf die Erde zu legen, trampeln in Stiefeln auf den Körpern herum, schlagen sie mit den Holzstöcken. Das Videomaterial, das die Menschenrechtsgruppe Amnesty International auf ihrer Seite zeigt, erschöpft sich aber nicht in Prügelszenen. Auch Hinrichtungen sind darauf zu sehen.

Über diese Gräueltaten des nigerianischen Militärs und anderer bewaffneter Gruppen berichtete Amnesty International Anfang August. Nun liegt bereits der nächste Bericht zu Nigeria vor: "Willkommen im Feuer der Hölle" ist er überschrieben. Demnach foltern nigerianische Sicherheitskräfte - Militärangehörige ebenso wie Polizisten - routinemäßig.

Der Bericht basiert Amnesty zufolge auf einer siebenjährigen Recherche in Gefängnissen und Polizeiwachen des gesamten Landes. Mehrere Hundert ehemalige nigerianische Gefangene sollen befragt worden sein, ergänzt um Zeugenaussagen von Angehörigen, Menschenrechtlern und Anwälten. Insgesamt 500 Fälle bilden demnach die Grundlage des Berichts.

Schläge, Schüsse, Ziehen von Finger- und Fußnägeln

Darin ist die Rede von Sonderverhörräumen auf vielen Polizeiwachen, wo Strafverdächtige misshandelt und gefoltert werden. "Zu den angewandten Foltermethoden gehören Schläge, Schüsse, das Ziehen von Finger-, Fußnägeln und Zähnen sowie Vergewaltigung und andere Formen von sexueller Gewalt", führen die Autoren des Berichts aus. Zwar verbiete die nigerianische Verfassung jegliche Form der Folter, doch eine strafrechtliche Verfolgung folternder Sicherheitskräfte finde nicht statt.

Hinzu kommen Amnesty zufolge willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen. Ehemalige Gefangene berichteten, ihnen sei der Kontakt zu Angehörigen sowie zu einem Rechtsbeistand verweigert worden; auch über die Haftgründe habe man sie nicht informiert. Amnesty berichtet von "derart schlechten Haftbedingungen, dass sie gegen internationale Menschenrechtsabkommen und -standards verstoßen, denen Nigeria verpflichtet ist". Die Rede ist von überbelegten Zellen, unhaltbaren Hygienebedingungen, Mangel an medizinischer Versorgung und schlechtem oder gar keinem Essen.

Der Bericht stellt keine nennenswerten Unterschiede zwischen den Haftbedingungen der Polizei und denen des Militärs fest. Doch das Vordringen der radikalislamischen Terrormiliz Boko Haram hat zu groß angelegten Militäroperationen im Nordosten Nigerias geführt - und damit, so Amnesty International und andere Menschenrechtsgruppen, zu erhöhter Militärpräsenz und Gewalt. Human Rights Watch warf der nigerianischen Armee bereits 2013 in einem Bericht vor, im Kampf gegen Boko Haram wahllos Zivilisten festzunehmen, sie zu misshandeln und außergerichtlich zu töten.

Bis zu 10 000 Festnahmen bei Offensive gegen Boko Haram

Auch in dem aktuellen Amnesty-Bericht schreiben die Autoren, dass die Berichte über Folterungen im Nordosten im Zuge der Offensive gegen Boko Haram deutlich zugenommen hätten. Zwischen 5000 und 10 000 Menschen seien schätzungsweise von der Armee bei ihren Operationen festgenommen worden; die wenigsten seien inzwischen wieder frei. Amnesty spricht von "Verschwindenlassen": Angehörige wissen meist nicht, wo und warum sich die Gefangenen in Haft befinden. Vor Gericht kommen die wenigsten.

Amnesty zufolge gibt es in der Krisenregion auch regelrechte Internierungslager, in denen Gefangene in Massen umkommen. Krankenhausangestellte berichten, dass Soldaten in Trucks vorfahren und pro Woche ein Dutzend Leichen abladen - verhungert oder erstickt. Zwei solcher Lager existieren ehemaligen Gefangenen zufolge in den Bundesstaaten Borno und Yobe - letzteres wird von der Bevölkerung offenbar "Guantanamo" genannt.

Die Berichte von Amnesty und Human Rights Watch ergänzen die Aussagen vieler politischer Beobachter in Nigeria: Die Regierung lässt der Armee bei ihrem Feldzug gegen Boko Haram weitgehend freie Hand; eine Kontrolle der Sicherheitskräfte und ihrer Freiwilligentrupps findet praktisch nicht statt. Zwar seien in den vergangenen zehn Jahren mehrere präsidentielle Komitees und Arbeitsgruppen einberufen worden, um das Justizwesen zu reformieren und Folter abzuschaffen, so Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland. Doch die Reformen würden nur quälend langsam umgesetzt.

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