Union Berlin gegen RB Leipzig:Traditionswächter in Müllsäcken

2. Bundesliga, 1. FC Union Berlin, RB Leipzig

Schwarz und still gehen die Union-Fans in das Spiel gegen RB Leipzig, weil auch der Letzte verstehen soll: In Leipzig stirbt gerade die Fußballkultur.

(Foto: dpa)

Leidenschaft gegen Kommerz, Wurst gegen Brause: Beim Zweitliga-Duell Union Berlin gegen RB Leipzig inszenieren sich die Berliner Fans als Bewahrer der Fußballkultur. Dabei hat Union selbst eine Vorgeschichte mit einem Großinvestor - und die angeblich kulturlosen Leipziger setzen Akzente.

Von Boris Herrmann, Berlin

Im Wilden Westen kann ein Poncho von unschätzbarem Wert sein. Dieses praktische Kleidungsstück schützt nicht nur vor den nächtlichen Winden der Prärie, es dient dem Revolverhelden auch als eine Art Tarnweste für den Pistolengurt. Clint Eastwood, der berühmteste Poncho-Träger der Kinogeschichte, hat in diesem Aufzug unzählige Halunken erlegt. Hat man Eastwood richtig verstanden, dann musste er seinen Lieblings-Poncho in all den Jahren, in denen er durch die Filmsets von Sergio Leones Spaghetti-Western-Trilogie ritt, nicht ein einziges Mal waschen. Toll!

Der kleine Bruder des Spaghetti-Western-Ponchos ist der Regenponcho. Dieses Kleidungsstück wiederum sorgt dieser Tage im wilden Osten für Aufsehen. Beim 1. FC Union Berlin in Köpenick haben sich am Sonntagsnachmittag knapp 20 000 Zuschauer in erstaunlicher Synchronität solche Regenponchos übergezogen - ungeachtet der Tatsache, dass es zu diesem Zeitpunkt gar nicht regnete.

Die durchwachsene Wettervorhersage war aber ohnehin nicht Grund, weshalb fleißige Aktivisten der Ultragruppe "Wuhlesyndikat" vorab alle Plätze im Stadion an der Alten Försterei mit kostenlosen Einweg-Regencapes ausgerüstet hatten. Anlass war natürlich der Besuch der Mannschaft von RB Leipzig.

Im Grunde handelte es sich bei den Ponchos lediglich um oben aufgeschnittene Müllsäcke. Aber das macht die Sache ja nicht uninteressanter. Im Gegenteil. Die gerade erst in die zweite Bundesliga aufgestiegenen Leipziger können sich zunächst einmal einiges darauf einbilden, dass sich ein ganzes Stadion ihnen zu Ehren in Abfalltüten hüllte.

Und dass sich all die heimischen Fans im Restmüll-Kostüm darüber hinaus zu Spielbeginn noch eine 15 Minuten währende Schweigepflicht auferlegten, war ja auch weder selbstverständlich noch sachdienlich. Das gab den rund 2000 mitgereisten Anhängern von RB die seltene Gelegenheit, sich ungestört selbst zu feiern: "Ohne Leipzig wär' hier gar nichts los." Gar so nett, wie das alles klingt, war das aber von Berliner Seite gar nicht gemeint.

Sorgsam gepflegtes Feindbild

Gemeint war: Friedhofsstimmung. Schwarz und still sind die Union-Fans in dieses Spiel gegangen, weil auch der Letzte verstehen soll: In Leipzig stirbt gerade die Fußballkultur. Die vom Getränkehersteller Red Bull gegründete Fußballfirma stößt in fast allen Stadien der Republik auf Ablehnung. Aber kaum irgendwo wird dieses Feindbild so sorgsam gepflegt wie bei den eifrigen Traditionswächtern in Köpenick. Im März 2011 sagte der Verein sogar ein bereits vereinbartes Testspiel gegen RB ab - auf Wunsch seiner Anhängerschaft. Um mal langsam zum sportlichen Teil des Nachmittags zu kommen: Diesmal ist Union angetreten.

Es hat sich allemal gelohnt. Dank zweier später Tore von Sebastian Polter gewannen die Berliner 2:1 (0:0). Der nach dem verpatzten Saisonstart aus Mainz ausgeliehene Polter sicherte seinem Verein damit nicht nur drei wichtige Punkte im Kampf gegen den Abstieg. Er bescherte Unions neuem, bislang sieglosen Trainer Norbert Düwel auch ein paar Argumente in der bereits leidenschaftlich geführten Trainerdebatte. "Das war schon eine große Befreiung", sagte Düwel. Nachvollziehbar, zumal es in Köpenick auch so etwas wie eine gefühlte Befreiung gibt. Etwas verkürzt gesagt: Siege gegen Stadtrivalen und Klassenfeinde zählen doppelt.

Gelähmt von der Bedeutungslast

Leidenschaft gegen Kommerz, Liebe gegen Geld, Stadionwurst gegen Klebebrause, bis hin zum Kampf der Kulturen wurde dieses Heimspiel gegen RB vorab überhöht. Mal abgesehen davon, dass es erstens auch in Leipzig Würstchen gibt und dass sich zweitens auch der 1. FC Union schon einmal einem Großinvestoren auslieferte, um seine Existenz zu retten, namentlich dem Kinounternehmer Michael Kölmel aus Karlsruhe, wurde die eigentliche Veranstaltung der vorgelagerten Diskursoffensive nur bedingt gerecht. Am Ende war es eben doch nur ein recht schnödes Zweitligaspiel.

Beide Teams wirkten eine gute Stunde lang wie gelähmt von der Bedeutungslast des Augenblicks. Das zu recht häufig gepriesene Offensivpressing der Leipziger führte diesmal kaum zu gefährlichen Strafraumszenen. Die Berliner, auch taktisch eher der Tradition verpflichtet, igelten sich meist ein und setzten auf gelegentliche Kick-and-Rush-Ausflüge - wobei den Kicks eher selten ein koordinierter Rush folgte. "Hab' eigentlich net des Gefühl ghabt, dass Union irgendwann ä Kischd macht", sagte Leipzigs Trainer Alexander Zorniger, dem man zumindest nicht vorhalten kann, er würde die schwäbischen Sprachtradition zu Grabe tragen.

Zorniger saß mit seinem Gefühl mutmaßlich nicht alleine im Stadion. Es war recht bald absehbar, dass dieses Spiel den Impuls einer gelungenen Standardsituation benötigte, um in Schwung zu kommen. Die Rolle des Schwung-Gebers übernahm dann Unions Mittelfeldspieler Benjamin Köhler. Seine Freistoßflanke landete in der 71. Minute auf Polters Kopf und rutschte unter den Armen von Leipzigs Keeper Benjamin Bellot hindurch über die Linie.

Derart beseelt lief der bis dahin weitgehend unsichtbare Polter zu großer Form auf und sorgte gut zehn Minuten vor dem Ende mit einem ausnahmsweise koordinierten Rush für den Siegtreffer. Zwischenzeitlich waren auch die Leipziger ein bisschen in Schwung gekommen. Der stets umtriebige Yussuf Poulsen hatte nach einer missratene Kopfballrückgabe von Unions Innenverteidiger Toni Leistner ausgeglichen (77.).

Bei allem Respekt vor der Protestaktion der Berliner Fans: Sie hätten schön blöd dagestanden, wenn der Siegtreffer bereits in der ersten Viertelstunde gefallen wäre, als noch ihr Schweigegelübde galt. In der Schlussviertelstunde sangen sie dafür umso lauter. Deshalb konnte Trainer Düwel letztlich auch aus guten Gründen sagen: "Ich muss den Fans ein Riesenkompliment machen, für die Stimmung, die sie hier reingezaubert haben."

Auch die angeblich kulturlosen Leipziger Anhänger feierten übrigens ihre Spieler. Jene Spieler, die sich gerade ihre erste Saisonniederlage eingebrockt hatten. Gemessen daran, dass es an diesem Nachmittag angeblich um den Tod der Fußballkultur ging, wirkte es ohnehin sehr lebendig, was sich zu beiden Seiten auf den Rängen abspielte. Einziges Manko: Als es Mitte der zweiten Halbzeit nach Kräften regnete, hatten die meisten Zuschauer ihren Protest-Poncho schon entsorgt.

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