Urbanitätsforschung:Was uns große Städte versprechen

Lesezeit: 3 min

Großstädter finden soziale, intellektuelle oder kreative Neigungen innerhalb der näheren Umwelt - wie hier am belebten Times Square in New York. (Foto: AFP)

Metropolen sind schneller, krimineller, aber auch kreativer. Warum? Eine kürzlich erschienene Studie untersucht die Veränderungen von sozialen Netzwerken je nach Stadtgröße.

Von Carlo Ratti

"Start spreadin' the news, I'm leavin' today / I want to be a part of it / New York, New York." Wie zahlreiche Künstler vor ihm konnte Frank Sinatra den Verlockungen von New York City nicht widerstehen - ein Publikum finden, mit talentierten Gleichgesinnten zusammenarbeiten, neue Freunde gewinnen. Aber was genau ist der Vorteil eines Großstadtlebens gegenüber dem Leben in einer kleinen Stadt? Was versprach sich Sinatra, als er seine Heimatstadt Hoboken, New Jersey, verließ?

Vor ein paar Jahren machten der Physiker Geoffrey West und sein Team vom Santa Fe Institute eine überraschende Entdeckung: Mehrere sozio-ökonomische Messwerte, sowohl negative als auch positive, nahmen mit wachsender Stadtbevölkerung zu. Durchschnittsgehalt, Produktivität, Patentanmeldungen und, ja, auch Kriminalität, Sorgen und HIV-Fälle steigen mit der Größe der Städte an.

Dieser Zusammenhang folgt dabei einem klaren Gesetz. West zufolge könne man "eine Person in eine zweimal so große Stadt umsiedeln und sie würde 15 Prozent mehr von all dem tun, was wir erfassen können." In mathematischem Fachjargon wird dies als superlineare Funktion bezeichnet: Ihre Kurve windet sich spiralartig zwischen einer kleinen und einer großen Stadt nach oben, von Hoboken nach New York (interessanterweise beschreibt eine ähnliche Funktion eine Vielzahl von Naturphänomenen, etwa den Zusammenhang zwischen tierischen Stoffwechselraten und Körpergrößen).

Kaiserstadt und Metropole der Zukunft
:Zeitreise von Kyoto nach Tokio

In Tokio entstehen die Trends, die später den Westen erreichen. Kyoto ist ein Sehnsuchtsort voller alter Tempel mitten in der Natur. Wer beide Städte besucht, erlebt das Japan der Samurai-Vergangenheit und eine Megacity wie aus dem Science-Fiction-Film.

Strukturen des sozialen Netzwerks

Immer mehr wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass solche Gesetzmäßigkeiten für urbane Räume in der ganzen Welt zutreffend sind. Wenn sie aber zutreffend sind, gibt es dann auch eine einheitliche Erklärung dafür? Wir wissen, was Städte rein äußerlich kennzeichnet - die Skyline von New York, die breiten Boulevards von Paris - aber was haben sie darüber hinaus gemeinsam? Wenn eine Stadt, wie Shakespeare es einmal formulierte, nichts anderes ist als ihre Einwohner, könnte die Antwort in den spezifischen Mustern von Verbindungen, Interaktionen und dem Informationsaustausch zwischen den Bürgern liegen - kurzum: in den Strukturen des sozialen Netzwerks.

Es scheint, dass Menschen und ihr Zusammentreffen im Raum die entscheidende Gemeinsamkeit ist, die alle Städte verbindet. Die Verbreitung des HIV-Virus ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Geschlechtskrankheiten werden durch Gruppen von Sexualpartnern, also kleineren sozialen Netzwerken, gestreut. Interessanterweise lässt sich aber durch einen ähnlichen gruppenbezogenen Mechanismus auch die Verbreitung von Ideen und Innovationen erklären.

Noch vor wenigen Jahren, als die Forschung zu menschlichen Beziehungen lediglich hinter Labormauern und mit Umfragebögen betrieben wurde, war es schwer, derart komplexe Phänomene exakt zu untersuchen. Die Methoden waren nicht nur ungenau, sondern auch für groß angelegte Erhebungen völlig ungeeignet. Jetzt ist es möglich, Fragen zu stellen, die vor kurzem noch unlösbar gewesen wären.

Deutsche Plätze und Architektur
:In der Vorhölle der Erbärmlichkeit

Provokant und anregend: Eine Nürnberger Ausstellung vergleicht "Plätze in Deutschland 1950 und heute". Schuld an den architektonischen Grausamkeiten sind nicht nur die Weltkriegsbomben.

Von Gerhard Matzig

Die kürzlich erschienene Studie "Die Skalierung von menschlicher Interaktion anhand der Stadtgröße", an der ich mitgearbeitet habe, nutzt Daten von Telekommunikationsnetzwerken in verschiedenen europäischen Ländern, um die Veränderungen von sozialen Netzwerken je nach Stadtgröße zu untersuchen.

Die Ergebnisse sind verblüffend: In großen Städten laufen die Menschen nicht nur schneller (ein Tatsache, der seit den sechziger Jahren bekannt ist), sie finden auch schneller neue Freunde. Die Gesamtzahl von menschlichen Verbindungen nimmt entsprechend der Stadtgröße zu, was genau jener superlinearer Funktion entspricht, die West vor einigen Jahren entdeckt hat. So ist etwa die Zahl der zwischenmenschlichen Verbindungen eines Londoners in dieser Stadt mit rund sieben Millionen Einwohnern fast doppelt so hoch wie eines Einwohners von Cambridge, wo 100 000 Menschen leben.

Darüber hinaus neigen Freundeskreise in London dazu, sich schneller zu verändern, da die Menschen eher flüchtige Verbindungen aufbauen. Es scheint, als ob die Stadt wie ein Magnet wirkt, der soziale Interaktion vorantreibt. Zwischenmenschlichen Begegnungen sorgen für eine ständige und immer schneller ablaufende Modifikation von Netzwerken und Freundeskreisen. Die zunehmenden Kontakte und die damit einhergehenden zirkulierenden Ideen, Aktivitäten und auch Krankheiten könnten die Veränderung von sozio-ökonomischen Dimensionen zwischen kleinen und großen Städten erklären.

Architektur in München
:Stadt im Wandel

München, das ist Kulissen-Glamour aus dem 19. Jahrhundert. So zumindest das Klischee. Dabei ist die zeitgenössische Architektur in der Landeshauptstadt längst besser als ihr Ruf. Ein Buch stellt 200 spektakuläre Bauprojekte vor.

in Bildern.

Anhäufungsfaktor - Die Idee vom Dorf in der großen Stadt

Indes hat die Forschung auch eine unerwartete Erkenntnis zu Tage befördert: Selbst in großen Städten neigen die Menschen dazu, Dörfer zu konstruieren. Dieses Verhalten wird als "Anhäufungsfaktor" bezeichnet und beschreibt die Wahrscheinlichkeit, dass die Freunde einer Person wiederum miteinander befreundet sind. Dieser Faktor ist in mehreren Metropolregionen auffallend stabil und lässt vermuten, dass Menschen, egal, wo sie leben, gern in eng gestrickten Gemeinschaften eingebunden sind.

Die Idee vom Dorf innerhalb der großen Stadt wird immer wieder untersucht, seit die Stadtforscherin Jane Jacobs die ausgeprägte Interaktion innerhalb von New Yorks Nachbarschaften beschrieb. Sie bezeichnete es als "verworrenes Ballett, in dem die Solotänzer und Ensembles zugeordnete Rollen haben, die sich gegenseitig verstärken". Heute bietet die mathematisch orientierte Sozialwissenschaft die nie zuvor dagewesene Möglichkeit, Jacobs' Beobachtungen in Zahlen zu übersetzen - das wird künftig vielleicht bei der Planung von städtischen Räumen nützlich sein.

Aber selbst wenn wir "urbane Dörfer" innerhalb großer Städte schaffen, sind diese doch grundlegend anders als ihre ländlichen Entsprechungen. In letzteren werden soziale Kreise für gewöhnlich durch Familie, Nachbarschaft oder Geschichte bestimmt. Große Städte hingegen machen Versprechen. Sie erlauben, soziale, intellektuelle oder kreative Neigungen innerhalb unserer näheren Umwelt zu finden. Kurz: In großen Städten können wir unser eigenes Dorf erschaffen - und auf gemeinsamen Interessen basierende Kontakte pflegen. Genau wie Frank Sinatra können wir uns unser eigenes Rat Pack suchen.

© SZ vom 23.09.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: