Föderalismus statt Abspaltung:Bund fürs Überleben

Föderalismus statt Abspaltung: "Independencia": Tausende Katalanen demonstrieren - wie hier in Barcelona - für Unabhängigkeit. Doch eine Abspaltung könnte Europa ins Chaos stürzen.

"Independencia": Tausende Katalanen demonstrieren - wie hier in Barcelona - für Unabhängigkeit. Doch eine Abspaltung könnte Europa ins Chaos stürzen.

(Foto: AFP)

Das Schottland-Referendum war nur der Anfang, auch Autonomie-Bewegungen wie in Katalonien fordern die Abspaltung. Europa würde das schaden. Helfen könnte mehr Föderalismus: Das System macht Menschen glücklicher. Und Regierungen besser.

Essay von Björn Finke, London

Jetzt sind die Katalanen dran: Anfang November lässt die Regionalregierung das Volk darüber abstimmen, ob Katalonien unabhängig von Spanien werden soll. Das entsprechende Dekret unterzeichnet der Regierungschef an diesem Samstag. Das Referendum ist nicht bindend, und die Zentralregierung in Madrid hält es für illegal - doch das ficht die Separatisten nicht an. Sie fühlen sich ermutigt von der Volksabstimmung in Schottland. Die haben die Abspalter am Ende zwar verloren, aber es war ein knappes Rennen, bei dem es zwischenzeitlich nach einem Sieg der schottischen Nationalisten aussah.

Die Abstimmung in Schottland gibt Unabhängigkeits-Bewegungen in ganz Europa Auftrieb - ob Katalanen oder Basken, Flamen oder Korsen, Südtiroler oder Venetier. Viele Menschen fühlen sich dort von den Zentralregierungen nicht richtig vertreten. Sie wollen ihre besondere Kultur stärker ausleben, wollen Herren ihres eigenen Schicksals sein. Oder sie wollen ganz schnöde ihre Steuereinnahmen nicht mehr mit dem Rest des Landes teilen.

Drei Thesen

Das Problem: In vielen Regionen Europas kämpfen Separatisten für eine Abspaltung

Die Lösung: Die Mutterländer sollten sich in echte Bundesstaaten umwandeln

Der Vorteil: Dies raubt Nationalisten die Argumente und schafft mehr Bürgernähe

Europa stehen also turbulente Jahre bevor. Die Regierungen wichtiger EU-Staaten müssen sich auf lange Abwehrkämpfe gegen aufmüpfige Regionen einstellen. In diese Kämpfe werden sie Zeit und Ressourcen investieren, die dann woanders fehlen. Dabei hat der Kontinent bereits genug Probleme: Die Euro-Krise ist ungelöst, die Wirtschaft wächst nicht, der Streit mit Russland bedroht die Gasversorgung. Um nur ein paar zu nennen.

Schottland gibt den Autonomie-Bewegungen Aufwind. Schottland liefert jedoch zugleich die Lösung für dieses Dilemma.

Diese Lösung heißt Föderalismus.

Große zentralistische Staaten passen nicht mehr in die Zeit; der Anspruch, alles von einer Hauptstadt aus regeln zu können, ist vermessen. Die Zentralregierungen müssen den Regionen weitreichende Rechte übertragen; die Regionen sollten für alles verantwortlich sein, das nicht zwingend von der Zentrale bestimmt werden muss. Und sie sollten über ihre Steuern entscheiden können. Denn ohne Einfluss auf die Staatseinnahmen kann eine Landesregierung nicht wirklich selbständig handeln, das Versprechen auf Autonomie bliebe hohl.

Willkommen im Vereinigten föderalen Königreich

In Schottland hat die Aussicht auf größtmögliche Eigenständigkeit die Umfragen gedreht. Weil die Abspalter kurz vor dem Referendum in Befragungen vorne lagen, sicherte die britische Regierung zu, der Region deutlich mehr Einfluss auf Steuern und Sozialausgaben zu gewähren. Wichtige Politikbereiche wie Bildung und Gesundheit kontrollieren die Schotten ohnehin schon. Am Ende siegten die Gegner der Unabhängigkeit mit komfortablem Vorsprung. Jetzt diskutieren die Parteien in London, was genau Edinburgh übertragen wird. Die Regierung in Westminster erwägt, die Schotten die Einkommensteuer-Raten komplett frei setzen zu lassen. Auch für die Erbschaft- und Kapitalertragsteuer könnten sie demnächst zuständig sein.

Die anderen britischen Nationen - die Engländer, Waliser und Nord-Iren - sollen ähnliche Rechte erhalten: Willkommen im Vereinigten föderalen Königreich.

Deutsche Ministerpräsidenten können da bloß vor Neid erblassen. Die Bundesrepublik mag der größte Föderalstaat in der EU sein, aber ein Musterbeispiel für gelungenen Föderalismus ist sie sicher nicht. Die Länder haben kaum Einfluss auf ihre Einnahmen, und nur bei wenigen Themen wie Bildung oder Polizei können sie tatsächlich selbst bestimmen.

In Deutschland wird ebenfalls darüber debattiert, wie man das Verhältnis zwischen Bund und Ländern neu austarieren kann. In fünf Jahren laufen die Regeln zum Solidarpakt und zum Länderfinanzausgleich aus: Bis dahin sollten sich die Politiker auf eine neue große Föderalismusreform geeinigt haben. Die letzte Reform - sie wurde etwas übereilt Jahrhundertreform getauft - ist gerade mal acht Jahre alt. Sie hat allerdings keins der Probleme des deutschen Föderalismus gelöst.

Großbritannien dagegen ist traditionell sehr zentralistisch. Früher kreiste alles um London und den Königshof, heute kreist alles um London und die dortigen Banken. Hält jedoch die Regierung ihre Versprechen an die Schotten ein, würde ausgerechnet jenes verstaubte Königreich zu einem Vorbild in Sachen Föderalismus: Von London lernen heißt Macht abgeben lernen.

Mehr Entscheidungsmacht statt Ohnmacht

Der Begriff Föderalismus stammt vom lateinischen "foedera", was Verträge oder Bündnisse bedeutet. Und genau darum geht es auch: Kleine Länder sind in einem festen Bündnis zusammengeschlossen - dieser Zusammenschluss ist der Zentralstaat, der sich um all das kümmert, mit dem kleine Länder überfordert sind. Verteidigung etwa oder Außenpolitik. Ansonsten gilt der Grundsatz, möglichst viel möglichst nah dran am Bürger zu regeln, in den Ländern oder gar in Kommunen. Subsidiarität nennt sich dieses wichtige Prinzip.

Katalanen, Korsen oder Venetier vermissen Nähe zu den Entscheidern. Die Klage: Viel zu viele Gesetze, die ihren Alltag betreffen, werden in weit entfernten Hauptstädten verabschiedet. Und von Politikern, die ihre Kultur und Eigenarten nicht verstehen. Dabei sind Staaten wie Italien, Frankreich und Spanien heute deutlich weniger zentralistisch als noch vor 30 oder 40 Jahren. Es gibt Regionalparlamente, die für konkrete Aufgaben zuständig sind. Trotzdem bleibt das Gefühl der Ohnmacht.

Das liegt in erster Linie daran, dass die meisten Regionalparlamente nicht über ihre Einnahmen bestimmen können, ihnen fehlt die Hoheit über wichtige Steuern - genau wie ihren deutschen Pendants. Damit ist kein Staat zu machen.

"Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles", heißt es schon in Goethes Faust. Eine Regionalregierung kann über noch so viele Themen entscheiden: Ohne eigene Steuern fehlt ihr der bedeutendste Hebel. Vielleicht wünschen sich die Bürger einer klammen Region mehr Investitionen in Schulen und wären bereit, dafür höhere Steuern zu zahlen. Sind die Politiker vor Ort für Bildung, nicht aber für Steuern zuständig, können sie diesen Wunsch nicht erfüllen. Oder sie müssen die Zentralregierung um mehr Geld bitten. So wie ein Kind den Vater um mehr Taschengeld angeht.

Selbstbestimmung sieht anders aus.

Derart abhängige Landesregierungen haben zugleich wenig Anreiz, sparsam zu haushalten. Sie müssen befürchten, dass die Zentrale ihnen dann weniger Steuergeld zuweist, weil sie ja gar nicht so viel brauchen. Solche Regionen sind zudem eines wichtigen Instruments der Wirtschaftspolitik beraubt: Sie können nicht Steuern senken, um Firmen anzulocken.

Der Länderfinanzausgleich: so besser nicht

Wer Abhilfe schaffen will, muss Ländern nicht einmal unbegrenzte Freiheit bei Abgaben wie der Einkommensteuer gewähren. Die Erlaubnis, die nationalen Steuerraten kräftig zu variieren, reicht. Verbunden mit der Zusage, dass die Regionalregierungen zusätzliche Einnahmen oder auch die Früchte mühsamer Einsparungen behalten dürfen. Umverteilung zwischen reichen und armen Landesteilen ist nötig, aber sie sollte nicht alles nivellieren: Clevere Politik muss sich lohnen.

Deutschlands aufgeblähter Länderfinanzausgleich dient in der Hinsicht als Beispiel, wie man es besser nicht macht. Weit mehr finanzielle Freiheit genießen etwa die Kantone in der Schweiz und die US-Bundesstaaten.

Solche Reformen würden dazu führen, dass Regionalregierungen besser auf die Wünsche ihrer Wähler eingehen können. Die Bürger müssten zudem nicht das Gefühl haben, dass sich andere Landesteile auf ihre Kosten ein gemütliches Leben machen. Endlich wären sie in vielen wichtigen Bereichen Herren ihres eigenen Schicksals. Und das ohne den Ärger und die Risiken, die mit einer Abspaltung vom Mutterland verbunden wären.

Föderalismus vereint also das Beste aus beiden Welten.

Die Furcht vor Unwägbarkeiten und die Perspektive auf viel mehr Rechte bei Steuern und Sozialem - das war in Schottland die Wunderformel, die Unabhängigkeits-Freunde ins Lager der Gegner überlaufen ließ. Die Formel könnte in Staaten wie Spanien und Italien ebenfalls funktionieren.

Höchste Zeit für eine umfassende Reform

Doch würde es zu kurz greifen, Föderalismus nur als Geheimwaffe gegen Sezessionisten zu betrachten. Auch Staaten ohne Separatisten-Gruppen sind gut beraten, möglichst viel möglichst nah dran am Bürger zu regeln. In einem föderalen System zu leben, macht Menschen im Durchschnitt glücklicher, hat der Schweizer Ökonom Bruno Frey ermittelt. Sie fühlten sich politisch stärker ernst genommen, so die Erklärung des Glücksforschers. Und der 2013 verstorbene amerikanische Wirtschafts-Nobelpreisträger James Buchanan pries Föderalismus als äußerst wirksame Methode, heilsamen Wettbewerb zwischen Regierungen zu schaffen. Bürger und Firmen können recht einfach von Bundesland zu Bundesland umziehen. Deswegen müssen Landesregierungen ein attraktives Umfeld schaffen, wollen sie Steuerzahler anlocken. Werden Länder schlecht geführt, fällt das schnell auf.

Außerdem ermöglicht Föderalismus, zu experimentieren und voneinander zu lernen. Lieber acht oder neun Jahre Gymnasium? Studium mit oder ohne Gebühren? In Deutschland gaben unterschiedliche Länder unterschiedliche Antworten auf diese Fragen, je nach Vorlieben der Wähler - oder der Regierungsparteien. Über die Jahre konnten Bürger, Parlamentarier und Wissenschaftler die Ergebnisse vergleichen und sie debattieren. Regierungen konnten Schlüsse daraus ziehen und ihre Politik anpassen. In einem Zentralstaat, wo die Hauptstadt Regeln für das ganze Land setzt, besteht diese Chance nicht.

Gegner des Föderalismus beklagen gerne, dass das System unnötige Bürokratie schaffe. Entscheidungen würden ewig dauern, weil sich Bund und Länder einigen müssen. Ergebnis seien dann halbgare Kompromisse. Für Deutschland trifft die Kritik in jedem Fall zu. Hier gaben die Länder über die Jahrzehnte viele Befugnisse an den Bund ab und erhielten im Gegenzug das Recht, bei immer mehr Bundesgesetzen mitzubestimmen. Deswegen haben Landesparlamente nur noch in wenigen Bereichen das Sagen. Die Landesregierungen hingegen mischen über den Bundesrat kräftig in der Bundespolitik mit.

Das ist intransparent, verwischt Verantwortlichkeiten und hebelt den Wettbewerb zwischen den Ländern aus. Dies spricht aber nicht gegen den Föderalismus, sondern dagegen, wie sich das deutsche System über die Jahre entwickelt hat.

Es wird höchste Zeit für eine umfassende Reform. Vielleicht können sich die Politiker bei einem zukünftigen Vereinigten föderalen Königreich Inspirationen holen.

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