Türkei und "Islamischer Staat":Warum Ankara jetzt Panzer schickt

Clashes Between ISIL Militants Continue On Turkish Border With Syria

Türkische Panzer bewachen die syrische Grenze. Zuvor sind Granaten aus Syrien in der Nähe von Suruç eingeschlagen, die offenbar vom IS abgefeuert wurden.

(Foto: Getty Images)

Lange wollte sich die Türkei nicht am Kampf gegen die Terrormiliz IS beteiligen, doch nun ist sogar die Entsendung von Bodentruppen im Gespräch. An der Grenze zu Syrien sind Panzer aufgefahren. Warum die Türkei ihren Kurs geändert hat - und welche Szenarien möglich sind.

Von Luisa Seeling

Der Krieg ist ganz nah an die Türkei herangerückt, buchstäblich bis auf wenige Meter. Die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) steht kurz vor der nordsyrischen Grenzstadt Ain al-Arab (Kurdisch: Kobanê). Die Luftschläge der amerikanisch-arabischen Anti-Terror-Allianz konnten ihr Vorrücken bisher nicht verhindern. Die Dschihadisten feuerten Raketen auf die Stadt, auch auf türkischem Gebiet schlugen Granaten ein. Und noch immer fliehen syrische Kurden in die Türkei.

Bisher wollte sich Ankara nicht an der Anti-Terror-Koalition beteiligen. Nun lässt die Regierung Panzer an der Grenze auffahren. Warum hat sie ihre Strategie geändert? Welche Szenarien werden nun diskutiert?

Was hat Präsident Erdoğan zugesagt?

Ankara wollte dem Anti-IS-Bündnis lange nicht beitreten, man erlaubte auch nicht die Nutzung der Luftwaffenstützpunkte, um Angriffe gegen den IS zu fliegen. Nicht einmal vom IS als "Terrorgruppe" wollten Recep Tayyip Erdoğan oder Regierungschef Ahmet Davutoğlu sprechen. Als US-Außenminister John Kerry Mitte September in Dschidda ein Bündnis mit befreundeten muslimischen Staaten schloss, wollte die Türkei als einziger Staat nicht dabei sein. Damals befanden sich noch 49 Mitarbeiter des türkischen Generalkonsulats in Mossul in der Gewalt der IS-Kämpfer - eine offizielle Begründung Ankaras, warum sich die Türkei am Kampf gegen den IS militärisch und logistisch nicht beteiligen wollte.

Eine Woche nach dem Treffen in Dschidda kamen die Geiseln frei. Inzwischen schließt Erdoğan eine militärische Beteiligung am Anti-Terror-Einsatz nicht mehr aus. Bei einem Besuch in den USA sagte er, die Türkei dürfe sich bei einer Gegenoffensive nicht heraushalten. Es werde ein umfassendes Mandat geben. "Wir werden alle notwendigen Maßnahmen treffen, unsere Grenzen zu schützen, auch militärische Schritte."

Wie sich die Türkei am Kampf gegen den IS beteiligen wird, ist noch nicht klar. Am Donnerstag will das Parlament über einen möglichen Einsatz in Syrien und im Irak entscheiden. Regierungschef Davutoğlu sagte vergangene Woche, dass zwei verschiedene Anträge im Parlament eingebracht würden - einer für Syrien und einer für den Irak. Die Zeitung Today's Zaman zitiert den Premier mit den Worten: "Ich hoffe, dass wir keine Entwicklungen in der Region erleben, die die Sicherheit der Türkei bedrohen. Doch wenn wir Maßnahmen ergreifen müssen, werden wir nicht zögern, dies zu tun."

Unterdessen zieht die Türkei an der Grenze Truppen zusammen. Die Streitkräfte hätten 35 Panzer in der Region aufgefahren, hieß es in türkischen Medien. Sie hätten 400 Meter von der Grenze entfernt Stellung bezogen und ihre Kanonen auf Syrien gerichtet. Die Zeitung Hürriyet berichtet, Armeechef Necdet Özel warte nun mit den nächsten Schritten auf Resolutionen des Parlaments.

Welche Szenarien werden nun diskutiert?

Erdoğan hat gesagt, Luftangriffe seien nicht ausreichend, um die IS-Milizen zu besiegen. Möglich ist deshalb, dass die Türkei, anders als die USA und ihre arabischen Verbündeten, Bodentruppen in Syrien einsetzt. Der Präsident fordert die Einrichtung einer "Sicherheitszone" (Pufferzone) auf der syrischen Seite der Grenze, die von türkischen und internationalen Truppen geschützt werden könnte. Die Zeitung Sabah berichtete, 10 000 türkische Soldaten stünden dafür nach Verabschiedung der Resolutionen bereit, weitere 5000 Soldaten würden in Reserve gehalten. Die Zone solle sich 20 bis 30 Kilometer nach Syrien hinein erstrecken und Ain al-Arab umfassen.

Ein rasches Eingreifen könnte auch deshalb erfolgen, weil türkische Soldaten in Syrien Medienberichten zufolge von IS-Kämpfern umstellt wurden. Die Soldaten bewachen auf syrischem Boden das Mausoleum von Süleyman Shah, dem Großvater des ersten osmanischen Sultans. Es liegt innerhalb Syriens auf einem exterritorialen Stück Land, das zur Türkei gehört. Die regierungsnahe Zeitung Yeni Safak berichtete am Dienstag unter Berufung auf arabische Stammesführer, rund 1100 IS-Kämpfer hätten die 36 türkischen Soldaten am Vorabend eingekesselt. Die Terrormiliz kontrolliere außerdem den wichtigsten Zugangsweg zum Grab, das rund 30 Kilometer südlich der umkämpften syrischen Stadt Ain al-Arab liegt. Schon im März hatte die Regierung in Ankara erklärt, ein Angriff auf das Gelände werde als Angriff auf die Türkei gewertet.

Was sagt die Opposition?

Die Opposition hat der Regierungspartei AKP ihr Zaudern lange vorgeworfen. Was ein militärisches Eingreifen in Syrien angeht, zeigt sie sich nun aber skeptisch. Der stellvertretende Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei CHP, Sezgin Tanrıkulu, sagte, man werde die Anträge prüfen und dann entscheiden. In einer Pressekonferenz im Parlament erklärte der Chef der größten Oppositionspartei, er persönlich sei gegen Kriege und Konflikte. Er warf der Regierung vor, der IS habe die Türkei als logistischen Stützpunkt genutzt.

Der stellvertretende Fraktionschef der CHP im Parlament, Akif Hamzaçebi, sagte, sollte sich die Türkei in eine Militäroperation mit Bodentruppen in Irak und Syrien beteiligen, werde sich das negativ auswirken auf die Region. Die Türkei könne zwar angesichts der Entwicklungen nicht stillhalten, sagte der Politiker. Aber: "Die Türkei kann die Koalition anders unterstützen als mit der Entsendung von Truppen."

Die nationalistische Oppositionspartei MHP lehnt Berichten zufolge jede Option ab, bei der ausländische Truppen die Türkei passieren, um in Irak oder Syrien gegen IS zu kämpfen. Sie sei aber nicht grundsätzlich gegen ein militärisches Eingreifen.

Warum hat Ankara seine Strategie gegen den IS geändert?

Offiziell wird der Kurswechsel mit der Freilassung der 49 Geiseln vor etwas mehr als einer Woche begründet. Die türkische Regierung fürchtet aber auch, dass sie den Flüchtlingsstrom nicht stoppen kann, wenn der IS in Syrien nicht zurückgedrängt wird. Schon jetzt sollen sich 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge offiziellen Angaben zufolge im Land befinden.

Innerhalb von anderthalb Wochen sollen 150 000 Menschen aus Nordsyrien gekommen sein. Gezählt hat sie allerdings niemand, die Angaben des UNHCR und der türkischen Behörden sind deshalb umstritten. Aus der Region um Ain al-Arab könnten nach UN-Schätzungen bis zu 400 000 Menschen über die Grenze fliehen. Erdoğan hat an die internationale Gemeinschaft appelliert, bei der Versorgung der Flüchtlinge zu helfen. Vor allem aber will die Regierung verhindern, dass immer neue Flüchtlingsströme die Türkei erreichen.

Auch Druck des Westens und vor allem von den USA hat bei dem Strategie-Wechsel wohl eine Rolle gespielt. US-Außenminister Kerry hat wiederholt klargemacht, dass er eine Beteiligung des Nato-Staats Türkei an der Anti-Terror-Koalition erwartet. In der Vergangenheit ist Ankara immer wieder vorgeworfen worden, man habe den IS gewähren lassen. Die Regierung in Ankara hat das stets dementiert und ein Interesse daran, diesem Eindruck entgegenzuwirken.

Ein weiteres Argument formuliert etwa Sami Kohen, Kolumnist der türkischen Zeitung Milliyet: Die türkische Regierung will eine Flugverbots- und Sicherheitszone auf syrischem Territorium. Dies erfordere aber militärisches Handeln und sei nur im Rahmen einer internationalen Koalition durchführbar. Ankara hat dem Autor zufolge die Politik der Zurückhaltung auch deshalb aufgegeben, um nicht an regionalem und globalem Einfluss zu verlieren. Die Türkei könne an der Gestaltung der Region nur mitwirken, wenn sie sich der internationalen Anti-IS-Koalition anschließe.

Dass der IS nicht nur an der Grenze, sondern auch im Land längst eine Sicherheitsbedrohung geworden ist, dürfte der Regierung inzwischen klar sein. Es gibt zahllose Berichte von Journalisten, aber auch aus Geheimdienstkreisen, die dokumentieren, wie aktiv der IS in der Türkei Kämpfer rekrutiert. Vor zwei Wochen demonstrierten IS-Anhänger auf der Istanbuler Shoppingmeile İstiklal Caddesi gegen die US-Luftangriffe auf die Milizen. Vorfälle, bei denen IS-Anhänger und -Gegner aneinandergeraten, häufen sich. Eine Gruppe von Studenten, die im Foyer der Istanbul-Universität einen Infostand gegen den IS aufgebaut hatten, wurde von Vermummten mit Stöcken überfallen.

Das größte Sicherheitsrisiko ist aber aus Sicht der Regierung in Ankara, dass die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK türkische Kurden zum Kampf gegen den IS mobilisiert. Die Organisation wirft der türkischen Regierung vor, den IS zu unterstützen. "Jede Kugel, die von der IS-Verbrecherbande auf den Norden Kurdistans abgefeuert wird, ist vom türkischen Staat abgefeuert worden." Der Kampf gegen die türkische Regierung solle verschärft werden. "Mit dem Geist des nationalen Widerstands wird nicht nur Kobanê, sondern ganz Kurdistan siegreich sein."

Der Kampf gegen den IS stärkt die PKK und gefährdet den Friedensprozess zwischen Ankara und den Kurden, der unter anderem eine Entwaffnung kurdischer Kämpfer vorsah. An der syrisch-türkischen Grenze strömen nicht nur Flüchtlinge ins Land, sondern auch kurdische Kämpfer zurück nach Syrien, um gegen den IS zu kämpfen.

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