Strafmaß für Oscar Pistorius:Prozess nach dem Prozess

  • Vor Gericht in Pretoria wird über das Strafmaß für Oscar Pistorius verhandelt.
  • Im Fokus stehen Charakter und Person des wegen fahrlässiger Tötung Verurteilten.
  • Er könnte zu einer mehrjährigen Haftstrafe, zu Hausarrest oder Sozialstunden verurteilt werden.

Von Lena Jakat

Ein nationaler Sportheld, der seine Freundin erschießt: Kein Kriminalfall in der Geschichte Südafrikas hat für mehr Schlagzeilen, für mehr Aufmerksamkeit und Diskussionen gesorgt als der Tod von Reeva Steenkamp und der folgende Mordprozess gegen Oscar Pistorius. Nach 43 Verhandlungstagen verkündete Richterin Thokozile Masipa am 12. September ihr Urteil: Oscar Pistorius hat sich der fahrlässigen Tötung von Reeva Steenkamp schuldig gemacht. Doch mit diesem überraschenden Urteil ist der Prozess noch nicht zu Ende, im Gegenteil. Am Montag ist das Gericht in Pretoria erneut zusammengetreten. Die Zukunft des 27-Jährigen erscheint ungewisser als in den vergangenen Monaten.

Warum ist der Mordprozess gegen Oscar Pistorius mit dem Urteil nicht zu Ende?

Ähnlich wie zum Beispiel in den USA wird das Strafmaß in Südafrika nicht zeitgleich mit dem Urteilsspruch verkündet. Das Justizsystem des Landes sieht jedoch ein außergewöhnliches Verfahren vor: Noch einmal kommen Verteidigung, Staatsanwaltschaft und Richterin zusammen, noch einmal tragen beide Seiten seit Montagmorgen ihre Argumente vor, rufen Zeugen auf, bevor schließlich über das Strafmaß entschieden wird. Dieser Epilog des eigentlichen Prozesses funktioniert wie eine kleine Verhandlung für sich.

Wie läuft diese Anhörung ab?

Zuerst ist die Verteidigung am Zug. Für Oscar Pistorius treten Personen in den Zeugenstand, die eine möglichst milde Strafe für den Verurteilten erwirken sollen. Wie während der eigentlichen Verhandlung können die Zeugen von der Staatsanwaltschaft ins Kreuzverhör genommen werden. Der Chef-Verteidiger des Athleten, Barry Roux, hat angekündigt, vier Zeugen aufrufen zu wollen, darunter einen Bewährungshelfer. Danach ist die Staatsanwaltschaft dran. Beide Seiten haben zu Beginn der Anhörung beteuert, dass das Prozedere insgesamt nicht länger als eine Woche dauern soll. Offen ist, ob Pistorius unmittelbar im Anschluss erfahren wird, wie es für ihn weitergeht - oder ob möglicherweise wieder einige Wochen vergehen, bis Masipa ihre Entscheidung über das Strafmaß bekanntgibt.

Welche Argumente werden vorgebracht?

Anders als bisher in der Verhandlung wird es weniger um die Tat als um die Person des Verurteilten gehen, da laut südafrikanischem Recht eine Strafe dem Täter als Menschen gerecht werden muss. Die Zeugenaussagen werden sich um eine Einschätzung von Pistorius' Charakter und seinem Verhalten insgesamt drehen. Es ist zu erwarten, dass sich die Verteidigung bemüht, Pistorius tiefsitzende Angst vor Verbrechen noch einmal herauszustellen. Die erste Zeugin, die Verteidiger Roux am Montagmorgen aufrief, war eine Psychotherapeutin, bei der Pistorius seit Steenkamps Tod in Behandlung ist. Sie attestiert dem Sportler eine posttraumatische Belastungsstörung in Folge der Schüsse.

Die Verteidigung dürfte außerdem deutlich machen, dass das Risiko, das der reuige 27-Jährige für die Gesellschaft darstellt, verschwindend gering ist. Eine Rolle wird wohl auch die Behinderung des Athleten spielen. Seine Anwälte könnten argumentieren, dass Südafrikas Gefängnisse für Amputierte nicht ausreichend ausgerüstet sind. Die Staatsanwaltschaft ihrerseits könnte kontern, dass Pistorius seine Behinderung nicht nutzen darf, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen.

Die Tat

In der Nacht zum Valentinstag 2013 gab Oscar Pistorius schnell hintereinander vier Schüsse durch die geschlossene Toilettentür in seinem Badezimmer ab und tötete so seine Freundin Reeva Steenkamp. Der Athlet beteuert, sie für einen Einbrecher gehalten und versehentlich erschossen zu haben. Er wurde wegen Mordes angeklagt und wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.

Welchen Ausgang könnte die Anhörung nehmen?

Theoretisch drohen Pistorius bis zu 15 Jahre Haft, in der Regel stehen auf eine solche Tat fünf bis acht Jahre. Angesichts seiner immer wieder beteuerten Reue, der Tatsache, dass er zum ersten Mal straffällig wurde und des bisherigen Verlaufs des Prozesses erscheint eine hohe Gefängnisstrafe unwahrscheinlich - auch wenn BBC-Korrespondent Andrew Harding in seiner Einschätzung die These aufstellt, dass Richterin Masipa ihr mildes Urteil mit einem härteren Strafmaß ein Stück weit ausgleichen und damit auch ihre Kritiker besänftigen könnte. Womöglich muss Pistorius überhaupt nicht ins Gefängnis, sondern wird zu einer Bewährungsstrafe, Hausarrest, Sozialstunden oder einer Mischung aus alledem verurteilt.

Unter welchen Bedingungen wäre Pistorius inhaftiert?

Für behinderte Häftlinge - von denen es derzeit 88 im Justizsystem gibt - sieht der südafrikanische Strafvollzug besondere Auflagen vor. Zunächst müssen ihre besonderen Bedürfnisse analysiert werden; ihre Prothesen dürfen ihnen nicht abgenommen werden und sie werden in besonderen Zellen untergebracht - meist allein oder zu zweit, im Gegensatz zu den gängigen Großraumzellen südafrikanischer Haftanstalten, die für ihre Überfüllung berüchtigt sind. Nach einer Gesetzesänderung 2012 wäre Oscar Pistorius womöglich auch ein Kandidat für Bewährung aus medizinischen Gründen (Lesen Sie eine ausführliche Erklärung von medical parole hier).

Wann müsste er im Falle einer Verurteilung seine Haftstrafe antreten?

Seit Erhebung der Anklage gegen Pistorius im August 2013 ist der Sportler, der inzwischen bei seinem Onkel Arnold Pistorius lebt, gegen Kaution frei. Nach ihrem Urteilsspruch vor vier Wochen entschied Richterin Masipa, dass der 27-Jährige unter denselben Auflagen weiterhin frei bleiben dürfe. Nach der Verkündung des Strafmaßes müsste darüber noch einmal neu entschieden werden.

Ist die juristische Aufarbeitung des Todes von Reeva Steenkamp damit zu Ende?

Nach der Verkündung des Strafmaßes wird sich zeigen, ob die Staatsanwaltschaft in Berufung geht; viele Experten erwarten diesen Schritt, er dürfte auch von der Härte der Strafe abhängen. "Sie kann in die nächste Instanz gehen, wenn sie das Strafmaß für zu gering hält", erläutert Strafrechtler William Booth die Möglichkeit der Staatsanwaltschaft. "Oder, wenn sie zur Überzeugung gelangt, dass die Richterin ein Gesetz falsch ausgelegt hat." Umstritten ist unter südafrikanischen Juristen vor allem Masipas Interpretation des Rechtsgrundsatzes von dolus eventualis - des bedingten Vorsatzes. (Lesen Sie hier mehr zu dieser Debatte.)

Auch Pistorius kann anschließend in Revision gehen - was zu Beginn der Strafmaß-Anhörung allerdings eher unwahrscheinlich erscheint.

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