Untergetauchte Jüdin in NS-Hauptstadt Berlin:Eine Frage der Würde

"Untergetaucht: Eine junge Frau überlebt in Berlin"

Marie Jalowicz Simon erzählte ihrem Sohn von ihren Erlebnissen während des Zweiten Weltkrieges in Berlin

(Foto: Hermann Simon/S.Fischer Verlag)

Was die Jüdin Marie Jalowicz Simon während der NS-Zeit auf sich nahm, um zu überleben, ist ungeheuerlich. Hart gegen sich und gegen andere, war sie taktisch klug - auch im Umgang mit bekennenden Nazis.

Von Nadia Pantel

Wer die Geschichte des Überlebenskampfs einer jungen Jüdin in Hitlers Berlin lesen möchte und sich davon große Gefühle und tapfere Helden erwartet, wird von diesem Buch enttäuscht sein. Es verweigert sich nicht nur jeder Rührseligkeit, sondern sogar jedem Spannungsbogen und ist gerade deshalb so gut.

Marie Jalowicz Simon erzählt in "Untergetaucht", wie sie als Vollwaise und Jüdin von 1940 bis 1945 versucht, in Berlin unsichtbar zu werden. Wie sie sich von Freunden zu Bekannten und schließlich sogar zu fanatischen Nazis weiterreichen lässt. Wie sie Tage und Wochen damit zubringt, einfach nur still auf einem Stuhl zu sitzen, damit die Nachbarn ihre Schritte nicht hören. Wie sie zur routinierten Lügnerin und Taktikerin wird.

Aber es sind nicht diese Ereignisse, die fesseln, sondern Simons klarer, abgeklärter, manchmal sogar dünkelhafter Blick auf diese Zeit. Simon ist gejagt, aber sie ist kein Opfer. Und die, die ihr helfen, sind mutig, aber keine Helden.

Über Johanna Koch, die Marie Jalowicz Simon drei Jahre lang Namen und Identität lieh, sagt sie: "Sie wollte mich armselig, abhängig und leidend haben, um mich dann tröstend streicheln zu können."

Als ein Paar, das mit ihr einen Unterschlupf teilt, von der Gestapo abgeholt wird, kommentiert sie: "Ich muss gestehen, dass ich erleichtert darüber war. Das Paar war mir gegenüber neugierig und misstrauisch gewesen und hatte sich unerträglich in der Küche breitgemacht. (. . .) Das weitere Schicksal dieser Familie beschäftigte mich damals kaum."

Das Kind einer der Frauen, die sie aufnimmt, bezeichnet sie als "kleinen Germanen": "Ich war unsagbar traurig, wenn ich daran dachte, wie viele jüdische Kinder ermordet wurden. Diesen krähenden Fleischberg, der so leidenschaftlich gerne aß, aber sehr spät sprechen lernte, konnte ich kaum ertragen."

Simons Ehrlichkeit und Härte provozieren. Sie führt vor Augen, dass wir immer noch die gleichen falschen Phantasien haben: Die Unterdrückten sollten ihren Unterdrückern moralisch und charakterlich überlegen sein. Und wer von der Gesellschaft entrechtet wird, soll sich nicht wehren, sondern sich demütig Hilfe suchen.

Abtreibung im Schrebergarten

Diese Täter-Opfer-Vorstellungen haben bei Simon nicht nur keine Gültigkeit, sie führt sie bewusst in ihrer Anmaßung vor: "Wir begegneten uns nicht als Individuen, sondern als Allegorien. (. . .) Ich verkörperte die Gestalt des verfolgten jüdischen Mädchens, dem man aus Prinzip zu helfen hat."

Und so gelingt es Simon, die Geschichte, die der Leser zu kennen glaubt, die Geschichte der Verfolgung der deutschen Juden, ganz neu zu erzählen. Ohne Pathos und ohne Helden. Sondern als Bild einer Gesellschaft, die sich von der NSDAP so weit entmenschlichen lässt, dass eben keine Inseln der Rechtschaffenen bleiben, sondern Angst und Opportunismus das Leben jedes Einzelnen prägen.

Untergetaucht

Eine Leseprobe stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Spannend wird das Buch auch durch seine Entstehungsgeschichte. Nach 1945 blieb Marie Jalowicz Simon in Berlin, heiratete ihren aus Palästina zurückgekehrten jüdischen Freund Heinrich Simon, studierte und promovierte und wurde schließlich Professorin für Antike Literatur und Kulturgeschichte. Sie blieb kämpferisch und extravagant, doch über ihr Überleben in der Nazizeit sprach sie nicht.

Erst 1997, Simon ist 75 Jahre alt, gelingt es ihrem Sohn, dem Historiker Hermann Simon, seine Mutter zu überreden, ihm ihre Geschichte zu erzählen. Das Buch "Untergetaucht" entstand aus den 77 Kassetten, auf denen die Mutter ihrem Sohn ihr Leben auf Band diktierte. "Chronologisch" und in "bemerkenstwert klarer Struktur", wie der Sohn sich erinnert. Die Aufzeichnungen enden mit Marie Jalowicz Simons Tod 1998.

Die Vorstellung, wie diese hoch angesehene Akademikerin ihrem eigenen Sohn Momente größter Verzweiflung unaufgeregt und knapp offenbart, ist fast schon beklemmend: eine improvisierte Abtreibung in einem Schrebergarten, die Entscheidung, sich immer wieder von Männern aushalten und auch benutzen zu lassen, um das eigene Überleben zu sichern, und die Notwendigkeit, sich auch mit bekennenden Nazis gut zu stellen.

Simon beschönigt nichts. Und ihr Sohn nahm schließlich die Herausforderung an, diese provozierend ehrliche Lebensgeschichte zu veröffentlichen.

Marie Jalowicz Simon: Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940-1945. Bearbeitung: Irene Stratenwerth, Nachwort: Hermann Simon. S. Fischer Verlag, 2014. 416 S., 22,99 Euro.

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