Historische Berichte über Bayern:"Feig, falsch und hinterlistig"

Tanz beim Künstlerfest in München, 1914

Ausgelassene Oberbayern bei einem Künstlerfest im Jahr 1914: Ein Bild, das gut passt zu den Beschreibungen von Ärzten im 19. Jahrhundert.

(Foto: Scherl/SZ-Foto)

Rückständige Oberbayern, schlaue Franken und Schwaben: Weil König Max II. ein genaues Bild über sein Volk haben wollte, ließ er Ärzte sogenannte Physikatsberichte schreiben. Teilweise klingen sie heute noch verblüffend aktuell.

Von Hans Kratzer

Der Gerichtsarzt Joseph Spieß hatte von den Menschen im Werdenfelser Land keine allzu hohe Meinung, wie er in seiner Volksbeschreibung aus dem Jahre 1857 verrät: "Sie hassen jeden Beamten, weil sie gehorchen sollen, scheuen das Militärleben, sind feig, falsch und hinterlistig und suchen überhaupt das Versteck der Lüge und Verleumdung." Spieß notierte seine Gedanken auf Aufforderung der Obrigkeit.

Alle bayerischen Bezirksärzte mussten damals sogenannte Physikatsberichte verfassen. König Max II. wünschte genaue Angaben über die Lebensverhältnisse und Erwartungen seiner Bevölkerung, die tief gespalten war. Die 50 Jahre vorher in das Königreich Bayern integrierten Schwaben und Franken vertrugen sich überhaupt nicht mit den Altbayern. Eine gesamtbayerische Identität war mehr Wunsch als Wirklichkeit.

Zwischen 1858 und 1861 wurden in Bayern insgesamt 284 Physikatsberichte erstellt, die heute in der Bayerischen Staatsbibliothek verwahrt werden. Sie bieten eine Fülle von Informationen, zu Gesundheitsfragen, zur Landschaft und zum Klima im damaligen Bayern. Auch die Lebensumstände der Bevölkerung, ihre Mentalität, ihre Ernährung, ihre Sitten und Feste werden ausführlich beschrieben, weshalb die Berichte gerne für Unterhaltungstexte und Zeitungsartikel herangezogen werden. Seit Jahrzehnten werden sie aber auch wissenschaftlich erforscht. Unter anderem von Peter Fassl, dem schwäbischen Bezirksheimatpfleger, der sich mit der Frage beschäftigt, wie die Ärzte die jeweilige Bevölkerung charakterisierten und welchen Denkmustern sie dabei folgten.

Mehr Wunsch als Wirklichkeit

In den Berichten ist zu lesen, die Schwaben zeichne ein klarer Verstand aus, geistiges Interesse, Arbeitsfreude, Sparsamkeit, Reinlichkeit und Aufgeschlossenheit für Neues. Die intellektuellen Fähigkeiten der Franken werden auch als ausgezeichnet beschrieben, mit ihrer Reinlichkeit sei es aber nicht weit her, Haus und Hausrat seien schmutzig. Die Oberbayern waren den Berichten zufolge rückständig. "Haben keine Energie, lassen sich Zeit, raufen und saufen gern, sind unsauber und stehen den Schwaben geistig nach. Neuerungen lehnen sie ab, die Heimat verlassen sie nie."

Laut Fassl beinhalten diese Beschreibungen viele Stereotypen und Trugbilder, die vor allem der Stärkung der Identität dienten, sich empirisch nicht widerlegen lassen und hohe Beständigkeit bis in die Gegenwart besitzen. Fassl weist nach, dass die Physikatsberichte eine fast nahtlose Übereinstimmung von Stammesstereotypen zeigen, die sich in früheren Jahrhunderten herausgebildet hatten. Manchen Ärzten war durchaus bewusst, dass sie mit ihren Allgemeinplätzen auf unsicherem Boden standen. Deshalb versuchten sie, ihre Texte mit Daten anzureichern. Dies führte mitunter zu Widersprüchen.

Obwohl die Schwaben generell als Vorbilder an Reinlichkeit dargestellt werden, gibt es in den Berichten genügend Hinweise, dass sie selten badeten und von der Reinlichkeit her eher den Oberbayern und Franken ähnelten. Fassl folgert daraus, dass die Physikatsberichte zwar eine bedeutende Quelle für volkskundliche und geografische Fragen sind, aber als Belege der lokalen Alltagsgeschichte mit Vorsicht zu lesen sind.

Schon damals strömten alle nach München

Ungeachtet dessen klingen manche Texte verblüffend aktuell. Der Amtsarzt Carl Küttlinger schrieb einst über die Nürnberger, sie hingen der "modernen Sucht der Großthuerei und Schwindelei" an, seien aber geistig gelenkiger als der Altbayer. Auch der ungebremste Zuzug nach München wird schon damals beobachtet: "Die Franken übertreffen zwar die Münchner in der Intelligenz bei weitem, streben aber dennoch in die Hauptstadt wie nach einem gelobten Lande."

Fassls Thesen über die Physikatsberichte finden sich in dem Gedenkband für den 2013 gestorbenen Augsburger Landeshistoriker Pankraz Fried, der sich intensiv dem Verhältnis von kleinen Strukturen zur großen Geschichte gewidmet hat. In dem lesenswerten Band untersucht außerdem Alois Schmid das Hirtenleben im vormodernen Süddeutschland, Helmut Gier räsoniert über Sommerferien der frühen 1960er Jahre in einer Augsburger Stadtrandsiedlung, und Markwart Herzog erörtert kleine Strukturen im Fußballsport der NS-Zeit.

Groß im Kleinen - Klein im Großen. Beiträge zur Mikro- und Landesgeschichte. Gedenkschrift für Pankraz Fried (Irseer Schriften, Band 10), hrsg. von Peter Fassl, Wilhelm Liebhart und Wolfgang Wüst, 49 Euro, UVK Verlagsgesellschaft Konstanz, 2014.

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