"All the Truth is Out" von Matt Bai:Als die Amerikaner den Skandal lieben lernten

Der US-Journalist Matt Bai ist in Amerika so bekannt, dass er sich in "House of Cards" selbst verkörperte. In seinem neuen Buch erklärt er, wann die Skandalisierung der US-Politik begann.

Von Matthias Kolb

Es ist eine einzige Frage, mit der die Karriere des Gary Hart beendet wird. Der Demokrat aus Colorado ist im Frühjahr 1987 Amerikas beliebtester Politiker und will Ronald Reagan im Weißen Haus nachfolgen. Da meldet sich ein Journalist der Washington Post bei einer Pressekonferenz zu Wort: "Finden Sie Ehebruch unmoralisch?", fragt Paul Taylor. "Ja", sagt Hart. "Haben Sie jemals Ehebruch begangen?" Hart erstarrt und stammelt: "Ähh, ich halte dies nicht für eine faire Frage." Taylor bohrt nach, bis der Senator den Saal verlässt.

Das Kreuzverhör ist eine Schlüsselszene in "All the Truth is Out. The Week Politics Went Tabloid", dem neuen Buch von Matt Bai, dem langjährigen Chefkorrespondenten des New York Times Magazine. Der 46-Jährige ist sich sicher: In jener Woche im Mai 1987 begann die Skandalisierung der US-Politik, die bis heute anhält. "Die moralische Integrität hat zuvor keine Rolle gespielt, um die Regierungsfähigkeit eines Kandidaten zu beurteilen. Die Affären von Franklin D. Roosevelt, John F. Kennedy oder Lyndon B. Johnson waren allen Journalisten bekannt, aber sie blieben tabu."

Jedes Thema eine Seifenoper

Die Debatte über Gary Harts Charakter wurde durch einen Anruf ausgelöst. Eine Informantin berichtete dem Miami Herald, dass Hart eine Geliebte habe und wann er sie treffen werde. Die Reporter versteckten sich vor dessen Haus in Washington und sahen, wie Hart mit einer Frau hineinging. Weil ihre Tarnung stümperhaft war, bemerkte der Senator die Beobachter und stellte sie zur Rede. Es folgte eine denkwürdige Szene, so Bai: "Plötzlich drängen vier Journalisten den Präsidentschaftskandidaten gegen eine Mauer und fragen, ob er Sex mit dieser Frau hatte." Obwohl Hart die Antwort verweigerte, erschien ein langer Artikel im Herald. Auch angesehene Medien wie die Washington Post hakten dann bei besagter Pressekonferenz nach.

Als Gary Hart 1984 fürs Weiße Haus kandidierte, wurde seine Privatsphäre respektiert. Doch drei Jahre später hatte sich das Medien-Umfeld geändert. Überall gab es billige Faxgeräte und die jungen Sender CNN und Fox forderten CBS, NBC und ABC heraus. "Die neuen Satellitenschüsseln machen es möglich, jedes Thema zur Seifenoper zu machen, weil nun von überall live gesendet werden kann", erklärt Bai heute.

Nun sah man erstmals jene Bilder, die heute jeder kennt: Das Haus von Hart wurde von TV-Aufnahmewagen belagert, Hubschrauber kreisten über dem Anwesen und Reporter stellten seiner Tochter im College nach. Als ein Foto auftauchte, das die blonde Donna Rice auf dem Schoß des Politikers zeigte, berichteten auch die Klatschmagazine. Bai sagt: "Das Ziel der Politjournalisten besteht vor allem darin, Lügen zu finden. Sie wollen beweisen, dass jeder Politiker ein Heuchler ist." Dies sei eine Folge des Watergate-Skandals, glaubt Bai. Einerseits schämten sich viele Journalisten, weil sie die Charakterschwächen von Richard Nixon nicht erkannt hätten; andererseits träumten gerade die jungen Reporter davon, einen Politiker zu stürzen und zu Helden zu werden.

Kurzatmige Berichterstattung

Dass "All the Truth is Out" eine lebhafte Debatte ausgelöst hat, liegt auch daran, dass Matt Bai selbst ein Star ist. Der schmale Mann mit Glatze hat vier Präsidentschaftswahlkämpfe begleitet und ist so bekannt, dass er in der Netflix-Serie House of Cards sich selbst verkörperte - er spielte einen Reporter, den das Weiße Haus anruft, um eine wichtige Story zu platzieren.

Insofern ist es bemerkenswert, wenn Bai den Kollegen vorhält, ihre Arbeit schlecht zu erledigen: "Viele Politikjournalisten berichten nur darüber, was Umfragen und Experten sagen." Damit sei genau das eingetreten, wovor Gary Hart 1987 gewarnt hatte, als er seine Kandidatur beendete: In vielen US-Medien wird so kurzatmig über Politik berichtet wie über Sport. Stets gehe es um die Frage "Wer gewinnt und verliert" und oft ist die persönliche Geschichte wichtiger als die Gesetzesentwürfe. In Bais Augen ist dieser Trend gefährlich für Amerikas Demokratie. Immer weniger Bürger seien bereit, in die Politik einzusteigen, weil die Medien auch alles Private überprüfen. "Wenn es aber nur noch um Äußeres geht und Fähigkeiten nebensächlich sind, dann wird auch jemand wie Sarah Palin zur Vizepräsidentschaftskandidatin gekürt."

Matt Bais Buch endet mit einer Episode, in der die Eitelkeit des Autors ebenso offenbar wird wie dessen Überzeugung. Er sitzt mit Gary Hart in einer Bar und verzichtet nach langem Zögern auf die Frage, ob der heute 77-Jährige wirklich eine Affäre mit der blonden Donna Rice hatte. Die Öffentlichkeit müsse akzeptieren, dass sich Hart den neuen Regeln verweigert und kein tränenreiches Interview an der Seite seiner Frau gegeben habe. Bai, der mittlerweile für Yahoo News schreibt, fordert mit dieser Anekdote aber auch seine Kollegen auf, ehrlicher zu sich selbst zu sein: "Wir Journalisten dürfen nicht vergessen, dass wir immer selbst entscheiden, wie wir ein Thema darstellen. Gary Harts Geschichte lehrt uns auch, dass unsere Entscheidungen immer Konsequenzen haben."

Linktipp:

Die wichtigsten Thesen seines Buches präsentierte Matt Bai in diesem Essay für das NYT Magazine.

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