Streik in Deutschland:Wenn der Kulturbruch droht

_141019 wpBerlin am Sonntagabend nach 19 00 h waren die Bahnsteige des Berliner Hauptbahnhofs fast

Um 19.00 Uhr am Sonntagabend ein seltener Anblick: der verlassene Berliner Hauptbahnhof. Es bedeutet den Deutschen etwas, dass ihr Land eine streikarme Zone ist.

(Foto: Imago Stock&People)

Krawall oder Mitbestimmung? Lokführer und Piloten können nicht beides haben. Den Deutschen bedeutet es viel, dass es so wenige Streiks gibt - das sollten die Gewerkschaften nicht vergessen. Auch im eigenen Interesse.

Kommentar von Detlef Esslinger

Zu den Auffälligkeiten dieser Tage gehört, dass so gut wie niemand weiß, wer Ilja Schulz ist, aber praktisch jeder eine Meinung zu Claus Weselsky hat. Der eine kann unerkannt durch jede Stadt spazieren, der andere sollte sich im Bistro lieber weit weg vom Eingang setzen, falls er unbehelligt einen Kaffee trinken will.

"Ich bin für das Streikrecht, aber gegen Weselsky", das ist in etwa die Haltung, die viele Menschen eingenommen haben. Ilja Schulz ist übrigens der Präsident der Pilotengewerkschaft Cockpit.

Da ist viel Empörungspotenzial

Wie kommt es, dass vor allem der Streik der Lokführer die Leute so erzürnt? Und kann es sein, dass sich etwas verändert in einem Land, das sich immer viel auf seine Konsenskultur eingebildet hat? Werden Konflikte nun ausgetragen wie in Frankreich, nach dem Motto: erst kämpfen, dann vielleicht reden?

Zwischen dem Tarifkonflikt der Lokführer und dem der Piloten gibt es eine Gemeinsamkeit und mehrere Unterschiede. Die Gemeinsamkeit ist, dass jeder Mensch mit Reiseplänen einen Streik dieser beiden Gruppen sofort zu spüren bekommt. Deshalb ist da viel Empörungspotenzial - unvergleichlich mehr, als wenn die Arbeit bei Amazon, in Streitkräftebüros, bei DHL oder den Sparda-Banken niedergelegt wird; um vier Streikaufrufe der Gewerkschaft Verdi seit Mitte September zu erwähnen, die alle unbemerkt geblieben sind. Die spürt ja keiner.

Einer der Unterschiede zwischen Lokführern und Piloten wiederum besteht darin, dass die Piloten eine sozusagen normale Auseinandersetzung führen. Sie kämpfen um Geld, das ihr Arbeitgeber nicht länger zahlen will, sie haben lange verhandelt, und wenn sie nun streiken, benutzen sie die gediegenen Formulierungen von Kontrahenten, denen Formen ebenso wichtig wie Interessen sind.

Die Lokführer hingegen kommen sehr viel hemdsärmeliger daher. Ihr Anführer Weselsky klingt nicht immer wie der nüchtern-professionelle Anwalt seiner Klientel, sondern allzu oft so, als führe er eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Management der Bahn. (Dass dessen Vertreter ihm in der Erregung und in der Wahl der Worte kaum nachstehen, ist allerdings ebenso wahr.)

Streikarme Zone Deutschland

Vor allem aber geht es im Bahnkonflikt nur zum Teil um einen Gegensatz zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgeber. Hier rivalisieren erkennbar zwei Gewerkschaften darum, wer die edlere ist. Was aber haben Menschen damit zu schaffen, die bloß mit dem Zug in die Herbstferien wollen?

Das ist eine Frage, die ebenso berechtigt wie unfair ist. Man kann ja nicht ernsthaft Menschen das Streikrecht absprechen, nur weil sie mit dessen Inanspruchnahme und vielleicht auch ihrem Gebaren mehr nerven als die von der Sparda-Bank. Zudem gehören Streiks nicht wirklich zu den großen Problemen in Deutschland - in Westeuropa fallen nur in den Niederlanden und in der Schweiz weniger Arbeitstage dadurch aus als hierzulande.

Es gibt hier wenige Streiks. Das bedeutet den Menschen viel

Wenn Angela Merkel meint, der Ausstand der Piloten und Lokführer zeige, dass es gute Gründe für die Verankerung des Prinzips "Ein Betrieb, ein Tarifvertrag" in einem Gesetz gebe, so sei sie an einen Spruch ihres Kompagnons Sigmar Gabriel erinnert: "Bei uns geht mehr Zeit durch überflüssige Grußworte verloren als durch Streiks." Gabriel ist übrigens auch für das Gesetz, trotzdem.

Andererseits müssen Cockpit und Lokführer-Gewerkschaft lernen, dass es den Deutschen etwas bedeutet, dass ihr Land eine streikarme Zone ist. Man kann nicht beides haben: so viel Mitbestimmung wie hier und so viel Krawall wie in Frankreich. Man kann nicht im Wissen um seine Schlüsselstellung auf seiner Maximalposition beharren und ignorieren, dass auch ein Arbeitgeber legitime Interessen hat. Ein Tarifkonflikt ist kein Fußballendspiel, an dessen Ende es Sieger und Verlierer geben muss.

Auch in anderen Branchen haben sich Arbeitnehmer in mehreren Gewerkschaften organisiert. Aber nur in der Bahnbranche will eine Gewerkschaft (die GDL) mit der anderen (der EVG) nichts zu tun haben, anstatt weiterhin Formen des Mit- oder zumindest Nebeneinanders zu leben. Bei der Bahn hatte die GDL bisher die Federführung für die Lokführer; im öffentlichen Dienst verhandeln Verdi und Beamtenbund gemeinsam; in der Sozialversicherung verhandelt der Arbeitgeber jeweils mit der einen Gewerkschaft, während die andere im Nebenraum wartet.

Anders gesagt, es gibt für konkurrierende Gewerkschaften genügend Möglichkeiten, damit sie alle sich entfalten können; es braucht nicht den Knüppel eines Gesetzes. Aber wenn Gewerkschafter anfangen, in Gewerkschaftskonkurrenten vor allem Arbeiterverräter zu sehen, wird ein Kulturbruch die Folge sein, der am allermeisten den Arbeitern schadet.

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