Konflikt in der Ukraine:Krieg der Vorwürfe

A woman is seen through a crack in a car window, that was hit by shrapnel, near a residential block of flats which was damaged by a recent shelling in Donetsk

Eine Frau ist durch die zerschossene Windschutzscheibe eines Autos im umkämpften Donezk zu sehen

(Foto: REUTERS)
  • In der Ukraine-Krise erheben Human Rights Watch und Amnesty International schwere Vorwürfe gegen beide Kriegsparteien.
  • Menschenrechtsverletzungen, der Abschuss von MH17, ein womöglicher Einmarsch russischer Truppen: Für unabhängige Beobachter ist es schwer, Propaganda von Wahrheit zu unterscheiden.
  • Der Krieg ist auch ein Krieg um die Deutungshoheit.

Ukraine gegen Russland: Krieg um die Deutungshoheit

Der undurchsichtige Konflikt in der Ukraine ist nicht nur ein Krieg mit vielen Toten, er ist auch ein Krieg um die Deutungshoheit, da unabhängige Informationen aus dem Osten des Landes nur spärlich zur Verfügung stehen. Organisationen wie HRW und AI sind für ihre Arbeit vor allem auf Zeugen - zum Beispiel Betroffene, Ärzte, Journalisten - angewiesen.

AI schickte für seinen Bericht eine Delegation in die Ukraine, räumte aber ein, dass es nicht möglich sei, allen Berichten über illegale Tötungen nachzugehen. Oft sei der Zugang nur zu den Gebieten möglich, die eine Kriegspartei gerade der anderen abgenommen habe. HRW beruft sich in seinem Bericht neben Zeugen auf eine einwöchige Untersuchung von Einschlagstellen mutmaßlicher Streubomben in der Ostukraine. Ein Überblick.

Wer hat Flug MH17 abgeschossen?

Bestes Beispiel ist das Drama um den im Juli abgeschossenen Flug MH17 der Malaysia Airlines. Im Zwischenbericht der von den Niederlanden geleiteten Kommission ist Anfang September von zahllosen Objekten die Rede, die das Flugzeug durchsiebt hätten, typisch für eine Flugabwehrrakete. Die Ukraine und prorussische Rebellen werfen sich bis heute gegenseitig vor, für den Abschuss verantwortlich zu sein.

Der Spiegel berichtete vor kurzem, der Bundesnachrichtendienst (BND) mache die Separatisten verantwortlich. Das Nachrichtenmagazin zitiert BND-Präsident Gerhard Schindler mit den Worten: "Es waren prorussische Separatisten." Das gehe aus Fotos und Satellitenaufnahmen hervor.

Das Beispiel MH17 zeigt auch, wie schwierig die unabhängige Berichterstattung und die Untersuchung von Vorfällen in der Ostukraine sind. Mitarbeiter der OSZE wurden nach dem Abschuss der Maschine wiederholt daran gehindert, zur Absturzstelle zu gelangen.

Ist Russland in die Ukraine einmarschiert?

Satellitenaufnahmen spielten schon bei der mutmaßlichen russischen Invasion in der Ostukraine eine Rolle. Ende August beschuldigten die USA Russland, an der Grenze eine "hochmobile, effektive Offensiv-Streitmacht" aufgezogen zu haben. Satellitenbilder zeigten angeblich auch, wie russische Artilleriegeschütze in einem Konvoi auf ukrainisches Gebiet transportiert wurden.

Damit sollte vor allem bewiesen werden, dass Russland die prorussischen Kräfte nicht nur mit Waffen versorgt, sondern auch selbst aktiv in den Konflikt in der Ukraine eingreift, was die Moskauer Führung bestreitet. Während der Annexion der Krim hatte Präsident Wladimir Putin eine direkte russische Beteiligung ebenfalls bestritten. Wochen später räumte er ein, gelogen zu haben.

Human Rights Watch: Streubomben in der Ostukraine

HRW erhebt in einem Bericht schwere Vorwürfe gegen die ukrainische Armee. Demnach soll sie in der Ostukraine Streubomben abgefeuert haben. Beim Kampf um Donezk setzte sie die international geächteten Waffen an mehr als einem Dutzend Stellen ein. Diese zerfallen vor dem Aufprall in viele kleine Teile und können damit ganze Gebiete in Minenfelder verwandeln, was für Zivilisten besonders gefährlich ist. Hundertprozentig festlegen will sich HRW allerdings nicht, da sich bei einigen Angriffen nicht eindeutig feststellen ließe, wer die Streumunition eingesetzt habe. Doch "die Beweise deuten bei mehreren Angriffen darauf hin, dass ukrainische Regierungstruppen verantwortlich waren" - vor allem beim Beschuss des Donezker Stadtzentrums. In der dicht besiedelten Stadt Donezk lebten zu Friedenszeiten etwa eine Million Menschen, mittlerweile sind viele von ihnen geflohen.

Die New York Times (NYT) berichtet Ähnliches. Demnach seien am 2. und 5. Oktober bei derartigen Attacken sechs Menschen verwundet und ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes getötet worden. Die Zeitung beruft sich auf Augenzeugen. Außerdem weise die Untersuchung der Einschlagstellen darauf hin, dass die Streumunition aus der Richtung der von Regierungstruppen kontrollierten Gebiete gekommen sei. Zeugen berichteten, dass sie an den fraglichen Tagen Raketen aus dieser Richtung gesehen hätten.

Die NYT will Angaben von HRW nicht bestätigen, wonach auch die prorussischen Rebellen Streubomben einsetzen. Ein Sprecher der ukrainischen Armee behauptete, dass die prorussischen Kräfte Zugang zu russischen Raketensystemen hätten, mit denen Streubomben abgefeuert werden könnten. Der Zeitung zufolge wies die ukrainische Armee die Vorwürfe zurück und stellte eine Untersuchung in Aussicht. "Wir verwenden diese Bomben überhaupt nicht, weil sie verboten sind", sagte Wladislaw Selesnjow von der "Anti-Terror-Operation" in Kiew dem Internetportal Ukrainskaja Prawda zufolge.

Amnesty International: Hinrichtungen ja, Massengräber nein

Die Organisation Amnesty International fand Belege für vereinzelte Verbrechen auf beiden Seiten. "Es gibt keine Zweifel an illegalen Hinrichtungen und Gräueltaten, die von prorussischen Separatisten und ukrainischen Milizen in der Ostukraine begangen worden sind", sagte die Ukraine-Expertin Jovanka Worner von Amnesty. Allerdings sei es schwer, das Ausmaß festzustellen. "Viele der schockierenden Fälle, die insbesondere von russischen Medien veröffentlicht wurden, sind enorm übertrieben", sagte sie. In einzelnen Fällen habe es Hinrichtungen gegeben, bei denen es sich um Kriegsverbrechen handeln könne.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow hatte von 400 Leichen in Massengräbern auf zuvor von ukrainischen Milizen kontrolliertem Gebiet berichtet. Eine Behauptung, der AI widersprach. Eine Delegation habe in der Nähe des Dorfes Kunar Beweise für die illegale Hinrichtung von vier Männern durch ukrainische Milizen gefunden. Die Leichen liegen demnach in zwei Gräbern. Es gebe hingegen keine überzeugenden Anhaltspunkte für Massentötungen oder -gräber.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: