Fünf Jahre Haft für Oscar Pistorius:Zwischen Ruhm und Gerechtigkeit

Wie soll Oscar Pistorius für die tödlichen Schüsse auf seine Freundin bestraft werden? Richterin Masipa hatte eine schwierige Balance zu finden, zwischen Schwere der Tat und Zukunft des Täters, zwischen Glaubwürdigkeit und Milde des Gerichts. Wie ist sie zu ihrer Entscheidung gelangt?

Von Lena Jakat

In einem Alter, in dem viele sich ins Private zurückziehen, ihren Ruhestand genießen, leitete sie das vielleicht schwierigste Verfahren ihrer Karriere. An ihrem 67. Geburtstag saß Thokozile Masipa im Gerichtssaal des High Court von Pretoria und hörte zu, wie Zac Modise, Chef der südafrikanischen Justizvollzugsanstalten, erklärt, dass der Angeklagte in einem Gefängnis sehr wohl seinen Bedürfnissen entsprechend untergebracht werden könnte. Der Mann mit den speziellen Bedürfnissen ist Oscar Pistorius, nationale Ikone, Sportidol, Mordverdächtiger, Angeklagter. Mehr als 40 Tage hat Masipa dem 27-Jährigen im Gerichtssaal gegenübergesessen, unter den Augen der Welt, in einem Verfahren, dass so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat wie kaum ein zweites in Südafrikas Geschichte.

Zwar soll die Richterin TV-Nachrichten, Zeitungen und Nachrichtenportale während des Prozesses gemieden haben. Doch der Druck, der auf ihr lastete, dürfte enorm gewesen sein. Umso mehr nach dem Urteil vom 12. September, als Masipa den beidseitig beinamputierten Athleten der fahrlässigen Tötung schuldig sprach. Dieses vergleichsweise milde Urteil hatte viele empört, Juristen griffen ihre Argumentation an. Als sie an diesem Dienstag zum letzten Mal das Wort ergreift, um das Strafmaß für Oscar Pistorius zu verkünden, macht sie aus ihrer schwierigen Aufgabe keinen Hehl. Eine gerechte Strafe zu finden, sei eine Herausforderung, der sich Gerichte tagtäglich stellen müssten, sagt Masipa, ein stets "ungenaues und imperfektes" Prozedere. Sie selbst hat diese Herausforderung ersten Reaktionen von Beobachtern zufolge bravourös gemeistert. Sie verurteilte Oscar Pistorius zu fünf Jahren Haft, die er wohl teilweise als Hausarrest verbüßen darf.

Wie gelangte die Richterin zu ihrem Ergebnis? Eine Annäherung anhand von sechs Prinzipien, die Masipa im Verlauf ihrer Argumentation benannte:

1. Abschreckung

Eine Strafe kann nur dann ihre abschreckende Wirkung entfalten, wenn das Gericht als Institution anerkannt ist. Nach der Kritik an ihrem Urteil vom September dürfte das Masipa nur allzu bewusst gewesen sein; in einer persönlichen Anmerkung sagte sie am Dienstag: "Es wäre ein trauriger Tag für dieses Land, wenn der Eindruck entstünde, dass es ein Gesetz für die Reichen und Berühmten gibt und eines für die Armen und Benachteiligten." Ein extrem hartes, vor allem aber ein allzu mildes Urteil hätte die öffentliche Glaubwürdigkeit des Gerichts nach Überzeugung von Prozessbeobachtern beschädigt.

Oscar Pistorius Is Sentenced For Killing Girlfriend

Oscar Pistorius verabschiedete sich von seiner Familie, als er den Gerichtssaal verließ.

(Foto: Getty Images)

2. Angemessenheit für den Täter

Ist Oscar Pistorius eine Gefängnisstrafe zuzumuten? Strafvollzugschef Modise konnte Masipa mit seinen Ausführungen vom Donnerstag überzeugen - anders als eine Bewährungshelferin, die als Zeugin der Verteidigung aufgetreten war. Diese hatte prophezeit, dass Pistorius im Gefängnis Gruppenvergewaltigungen drohen könnten. Deren Aussage bezeichnet Masipa am Dienstag als "enttäuschend" und "schlampig". Oscar Pistorius sei nicht der erste Behinderte im südafrikanischen Strafvollzug. Zudem habe der Profisportler mit seiner eigenen Biografie bewiesen, dass er sehr gut zurechtkomme. Bei den Olympischen Spielen in London 2012 war der heute 27-Jährige bei denselben Laufwettbewerben wie Nichtbehinderte angetreten. Ähnlich hatte in der vergangenen Woche auch Staatsanwalt Gerrie Nel argumentiert - und dafür bei Twitter viel Zustimmung erfahren.

3. Angemessenheit für die Tat

Als Masipa während der Verkündung des Strafmaßes sagt: "Drei Jahre zur Bewährung und 300 Sozialstunden", zucken manche im Saal kurz zusammen. Der Satz ist am Dienstagmorgen ein Test, wer wie konzentriert zugehört hat. Doch es geht noch nicht um die Strafe für Oscar Pistorius, sondern um einen anderen Fall; einen Fall, in dem ein Mann namens Warren Foster einen Unschuldigen erschoss, den er für einen Einbrecher gehalten hatte. Wie in Südafrikas Rechtssystem üblich, bezieht sich Masipa in ihrer Argumentation auf diesen und andere Präzedenzfälle. Anhand dieser begründet sie, warum sie eine Bewährungsstrafe für nicht angemessen hält.

4. Rehabilitierung

Auch die Zukunft eines Verurteilten muss das Gericht bei der Festlegung der Strafe in Betracht ziehen. Schon als Richterin Masipa Pistorius' persönliche Daten verliest, wird klar, dass er im Moment wenig zu verlieren hat: "27 Jahre alt, beidseitig amputiert, Single, keine abhängigen Kinder, kein Vermögen - da er sein Eigentum im Verlauf des Verfahrens veräußert hat -, kein Einkommen." Am Montag hatten seine Geschwister bei CNN darüber gesprochen, wie Steenkamps Tod und der Prozess das Leben aller Beteiligter für immer verändert hätten. Oscar Pistorius ist jung genug, um irgendwann nach Ablauf der fünf Jahre ein relativ normales Leben führen zu können. Dass er in die Öffentlichkeit oder in den Profisport zurückkehren wird, scheint zum jetzigen Zeitpunkt allerdings höchst unwahrscheinlich.

5. Öffentliches Interesse

Ein Faktor, dessen Rolle in diesem Prozess nicht zu unterschätzen ist. Dem öffentlichen Interesse ist geschuldet, dass das Verfahren live in Wort und Bild übertragen wurde, dass der Fall Pistorius über Monate hinweg fast täglich die Schlagzeilen der Zeitungen und Fernsehnachrichten bestimmte. Dass Südafrika zu einer Nation der Hobby-Ermittler wurde. Doch Masipa verwehrt sich gegen populistische Forderungen. Was im besten Interesse der Gesellschaft sei, stellt sie klar, "ist nicht unbedingt das, was die Gesellschaft will", ist nicht, was die Leute fordern. Die Verhandlung sei kein "Wettbewerb der Popularität".

6. Wiedergutmachung

Masipa ist keine Frau der großen Gesten und lauten Worte. Und so hat es eine große Wirkung, wenn sie einmal eine kleine Pause macht in ihrem ruhigen, konzentrierten Redefluss. Wie nach dem Satz: "Sie war eine glückliche Person." Die Rede ist von Reeva Steenkamp. Die Richterin macht deutlich, dass es bei der Gerichtsentscheidung zwar nicht um Rache, wohl aber um ein Stück Wiedergutmachung gehen könne. "Nichts, was ich hier sage oder tue, kann rückgängig machen, was an jenem 14. Februar 2013 geschah", sagt Masipa. Sie hoffe jedoch, dass Reeva Steenkamps Familie dadurch in irgendeiner Form mit den Ereignissen abschließen könne.

Die richtige Balance

Es gelte, zwischen all diesen Erwägungen die richtige Balance zu finden, sagt Masipa immer wieder. Die richtige Balance zwischen der Schwere der Tat und der Reue des Angeklagten. Zwischen der Glaubwürdigkeit des Gerichts und der gebotenen Milde. Zwischen den zehn Jahren Haft, die die Staatsanwaltschaft gefordert hat und dem Hausarrest, für den die Verteidigung plädierte.

Mit ihrer Entscheidung für fünf Jahre Haft scheint Masipa eine gute Balance gefunden zu haben - auch zwischen den gegenläufigen Forderungen von Anklage und Verteidigung: Die Haftstrafe wurde laut Paragraf 276 Ziffer 1 Abschnitt (i) der südafrikanischen Strafprozessordnung (hier als PDF) verhängt. Darin wird die Form des Arrests spezifiert als "Haft, aus der eine solche Person durch Anweisung eines Bevollmächtigten oder eines Bewährungsausschusses unter Aufsicht gestellt werden kann". Das heißt, Pistorius wird die fünf Jahre wohl nicht vollständig hinter Gittern verbringen.

Wann er aus der Haft in den Hausarrest entlassen werden könnte, wird seit der Verkündung des Strafmaßes debattiert. Während Pistorius' Anwälte sagen, sie rechneten bereits nach zehn Monaten - nach etwa einem Sechstel der fünf Jahre - damit, hieß es von der nationalen Strafverfolgungsbehörde, ein solcher Schritt sei frühestens nach Verbüßen von einem Drittel der Haft möglich, also in gut eineinhalb Jahren.

Fünf Jahre Haft für Oscar Pistorius: Im Kgosi-Mampuru-Gefängnis wird Pistorius zumindest die erste Zeit seiner Haftstrafe verbringen.

Im Kgosi-Mampuru-Gefängnis wird Pistorius zumindest die erste Zeit seiner Haftstrafe verbringen.

(Foto: AP)

Tag eins seiner Zeit im Gefängnis hat bereits begonnen. Das Strafmaß hat Pistorius, der während des Prozesses immer wieder schluchzend zusammengebrochen war, ohne sichtbare Regung hingenommen. Eine kurze Abschiedsgeste an die Familie, dann verließ er den Saal erstmals nicht mehr durch den großen Ein- und Ausgang, sondern durch eine kleine Tür, die über eine Treppe direkt in die Zellen des Gerichtsgebäudes führt. Von dort wurde er noch am Mittag ins Gefängnis Kgosi Mampuru II in Pretoria überstellt. In der Haftanstalt, in der derzeit etwa 7000 Gefangene einsitzen, wird er laut Medienberichten eine der derzeit 15 freien Einzelzellen beziehen. Dort wird er bleiben, mindestens für die kommenden zehn Monate. Seine Familie hat angekündigt, das Urteil zu akzeptieren und nicht in Berufung gehen zu wollen.

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