Einwanderung nach Europa:Zäune sind zwecklos

African migrants sit atop a border fence between Morocco and Melilla during an attempt to cross into Spanish territory

Flüchtlinge aus Afrika klettern auf den Zaun zur spanischen Exklave Melilla, die an Marokko grenzt.

(Foto: REUTERS)

Wie viel Einwanderung verträgt Europa? Es hilft nicht, immer wieder zu beteuern, die europäischen Staaten hielten eine unkontrollierte Einwanderung nicht aus. Migration findet statt. Ein Plädoyer für Realismus.

Von Thomas Steinfeld

Zwei Gruppen Reisender ziehen durch die Welt. Die einen sind freiwillig unterwegs. Die Touristen. Nach zwei, drei Wochen Abwesenheit sind sie wieder dort, von wo sie herkamen. Die andere Gruppe, minder freiwillig unterwegs, besteht aus Migranten.

Beide verkehren oft auf denselben Wegen, in denselben Verkehrsmitteln, ihre Ökonomien sind verknüpft: Der Gast aus einem fremden Land trifft am Urlaubsort auf Kellner, Fahrer, Händler, Wächter und Bettler aus anderen fremden Ländern. Der Unterschied besteht darin, dass das Personal die Heimat aus Not verließ und häufig nicht dorthin zurückkehrt.

Es gibt Arbeitsmigranten, es gibt die politisch Verfolgten mit ihren individuellen Schicksalen, und es gibt die zusehends mehr werdenden Menschen, die sich auf den Weg machen, weil ihnen die Not über den Kopf wächst. Bei der ersten Gruppe geht es um einen Handel zu beiderseitigem Vorteil: Diese Menschen wandern aus, um Arbeit zu finden. Ihr neues Land braucht sie und empfängt sie zumindest halbwegs wohlwollend.

Die halbe Million Einwanderer aus Masuren oder Oberschlesien, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ins Ruhrgebiet kamen, gehören zu den Arbeitsmigranten. Und Hunderttausende junge, gut ausgebildete Italiener, Spanier und Griechen, die seit Beginn der großen Konjunkturkrise 2008 in die nördlichen Länder der Europäischen Union zogen, gehören ebenfalls zu dieser Gruppe.

Die Arbeitsmigranten waren, historisch betrachtet, der Normalfall unter den mehr oder minder unfreiwillig Reisenden. Wenn sie in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder den Status eines "Problems" errungen haben, dann liegt das weniger an ihnen als an einem Staat, der sich streng unternehmerisch zu ihnen verhalten will. Dass sich solche Kalküle nicht lange aufrechterhalten lassen, lehrt die Geschichte vom "Anwerbestopp", mit dem die Bundesregierung im Jahr 1973 angesichts der Ölkrise versuchte, Menschen aus den armen europäischen Ländern an der Einwanderung zu hindern.

Es gibt viele Gründe für dieses Scheitern: Dass Unternehmen über billige Arbeitskraft anders denken als der Staat, der ihre Anreise verwaltet, ist einer. Ein zweiter Grund besteht darin, dass eine Arbeitskraft durchaus nicht nur in Arbeitskraft besteht, sondern andere Menschen kennt und braucht - oder von ihnen gekannt und gebraucht wird. Als da zum Beispiel sind: Verwandte, Freunde, Genossen, weitläufige Verpflichtungen, Zuhälter aller Art.

Erst Nationalstaat schafft innen und außen

Länder, die über eine lange Kolonialgeschichte verfügen, haben mehr Erfahrung mit solchen Verhältnissen als etwa die Bundesrepublik Deutschland, die schon lange ein Einwanderungsland war, bevor sie von den eigenen Politikern öffentlich als solches wahrgenommen wurde. Das aber liegt keineswegs daran, dass diese Politiker nicht wüssten, was geschieht, sondern dass sie auf diese Weise ihren Wählern mitteilen, wie sie zur Einwanderung stehen: Sie wird allenfalls hingenommen, unter der Voraussetzung, dass der volkswirtschaftliche Nutzen erkennbar ist.

Woran das liegt? Am Nationalstaat. Denn dieser mag sich noch so gutmütig gerieren, er kann sogar, wie vor allem Schweden, proportional mehr Flüchtlinge aufnehmen als jeder andere Staat in der westlichen Hemisphäre. Und doch unterscheidet er zwischen Innen und Außen, zwischen Bürgern, die er zu seinem Inventar zählt, und solchen, die zum Bestand anderer Staaten gehören.

Europa-Spezial

Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Zusammenarbeit der Süddeutschen Zeitung mit der polnischen Gazeta Wyborcza, dem britischen Guardian, der französischen Le Monde, dem spanischen El País und der italienischen La Stampa.

Ist es nicht seltsam, wie oft man das Argument hört, bei den jungen Spaniern oder Italienern, die gegenwärtig in den nördlichen Staaten der EU unterzukommen suchen, handele es sich um gut ausgebildete Menschen - es liege also ein Vorteil darin, sie aufzunehmen, weil ein anderer Staat für diese Ausbildung zahlte?

Der Bürger teilt dieses Kalkül: Eine solche Rechnung ist nur die andere Seite der Erwartung, der eigene Staat habe dem persönlichen Vorteil zu dienen, weshalb Menschen, die von außen kommen, als Nutznießer erscheinen, denen die Berechtigung zur Vorteilsnahme fehlt.

Asyl als Ausnahme begriffen

Im 19. Jahrhundert war das Auswandern und Einwandern vor allem eine Sache von Arbeitsmigranten. Gewiss, es gab die Ostjuden, die, nachdem sie in Russland zum Opfer von Pogromen geworden waren, nach Westeuropa gingen.

Und selbstverständlich hat es die politischen Flüchtlinge gegeben, Carbonari und Bonapartisten in der Schweiz, polnische Nationalisten in Frankreich, die Kommunisten in London, die Anarchisten, die durch die Welt wanderten. Zusammen aber bildeten sie eine Gruppe von vielleicht zehntausend Menschen, deren Kontrolle für die sie aufnehmenden Staaten eine sicherheitspolitische, nicht aber eine außenpolitische Angelegenheit war.

Das änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg, mit dem das österreichisch-ungarische, das osmanische und das russische Reich verschwanden und Nationalstaaten an ihre Stelle traten. Seitdem ist Flucht und Asyl Schicksal von Massen.

Diese Geschichte beginnt mit den Armeniern, die vor den Massakern der Türken ihre Heimat verlassen, mit den Russen, die auf der Flucht vor dem kommunistischen Regime in Berlin unterkommen. Als in den 1920er-Jahren das moderne Asylrecht geschaffen wurde, spiegelte es die neuen Verhältnisse wider. Es institutionalisierte nicht nur den Flüchtling, sondern nationalisierte ihn auch.

Was dabei entstand, in Form von Ämtern, Gesetzen und Routinen, war nie nur eine humanitäre Maßnahme, sondern ein Instrument der Außenpolitik. Das liegt daran, dass das Asyl als Ausnahme begriffen wird: Ein Asylant ist ein Bürger, der eigentlich zu einer fremden Staatsmacht gehört, dieser aber zumindest zeitweilig entzogen wird.

Asylbewerber oder doch nur "Wirtschaftsflüchtling"

Als Begründung für eine solche Ausnahme reicht es nicht aus, dass einer in Verfolgung lebt. Immer steht dabei der andere Staat zur Debatte. Erst wenn sich dieser in den Augen des asylgebenden Landes als kritikwürdig erweist, wird ein Asyl überhaupt erwogen. Das Asylrecht kam daher erst im Kalten Krieg zu sich selbst, und immer steht der Verdacht im Raum, es womöglich doch nur mit einem "Wirtschaftsflüchtling" zu tun zu haben.

Der britische Historiker Peter Gatrell hat ausgerechnet, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg 175 Millionen Menschen eine neue Heimat suchen mussten, darunter zwölf Millionen, die aus dem Osten nach Deutschland kamen. Viele sind seitdem hinzugekommen, so die Opfer der jugoslawischen Bürgerkriege oder zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Irak, die in der Türkei leben.

Verbreitet ist die Neigung, das Flüchtlingswesen als etwas Vorübergehendes zu betrachten, als etwas, das eines Tages verschwindet. Aber diese Wanderungen sind weder episodisch, noch berühren sie die westlichen Gesellschaften nur am Rande. Sie sind Teil dieser Welt, und sie werden es bleiben.

Etwa 140 000 Flüchtlinge sind in diesem Jahr bisher über das Mittelmeer nach Italien gekommen. Die meisten von ihnen stammen aus Syrien und aus dem Irak, aus einer Region, in der die westlichen Industrieländer, wie vermittelt auch immer, selbst Krieg führen, sowie aus den Staaten südlich der Sahara: aus dem Sudan, aus Eritrea, Mali oder Somalia.

Aus diesen Ländern kommen nunmehr nicht nur, wie bis vor einigen Jahren, junge Leute, die an eine bessere Zukunft in Europa glauben, sondern ganze Bevölkerungen, die in ihrer Heimat nicht mehr überleben können - weil Somalia kriegerischen Clans anheimgefallen ist, weil sich in Mali Islamisten, Rebellen und französische Truppen bekriegen, weil sich Eritrea weder mit Äthiopien noch mit Somalia über Grenzen einigen kann, und jeder dieser Konflikte ist am Ende vor allem Ausdruck und Konsequenz dessen, dass sich der jeweilige Staat unter den Bedingungen einer sich verschärfenden Globalisierung weder ökonomisch noch politisch behaupten kann. Er hat keine Wirtschaft mehr, und seine Politik besteht in Krieg.

Wie unbrauchbar ein solcher Staat ist, das erleben die Menschen, die zu seinem Inventar gehören, am eigenen Leib - und das drücken die europäischen Politiker und ihre Medien dadurch aus, dass sie sie verbal in einen "Strom" oder eine "Flut" verwandeln.

Wohlstand Europas und Elend anderer Kontinente hängen zusammen

Es sind noch immer wenige Menschen, gemessen an den Millionen, die nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg unterwegs waren und die doch, mit Ausnahmen, zu denen vor allem die Palästinenser zählen, eine neue Heimat fanden. Und doch beunruhigen sie, weniger die Politiker, die wie immer darauf bestehen, alle Verpflichtungen des eigenen Staates seien bereits mehr als erfüllt, als ganz gewöhnliche Menschen.

Dahinter verbirgt sich nicht nur der schlichte Umstand, dass die Einwanderer aus Afrika oder dem Nahen Osten im Straßenbild deutlich sichtbar werden, im Unterschied etwa zu Bulgaren oder Weißrussen. Dahinter verbirgt sich auch nicht nur der landläufige Rassismus. Er wird vielmehr begleitet von einer Ahnung, dass die "Flüchtlingsströme", die nun in die europäischen Kernländer "fluten", nur den Anfang einer viel größeren Bewegung bilden - und dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem Wohlstand, den es in Europa gibt, und dem Elend, das andere Kontinente beherrscht.

Diese Entwicklung ist umso unheimlicher, als sie zwar unmittelbar mit Europa zu tun hat, aber größtenteils außerhalb des Kontinents stattfindet. Die innerhalb der europäischen Grenzen herrschende Illusion, Europa sei eine eher friedfertige Veranstaltung, kann sich nur behaupten, weil die Konflikte gleichsam ausgelagert sind.

Selbst die Gewalttätigkeiten in den Banlieues von Paris oder im Londoner Westend nehmen sich gering aus verglichen mit dem, was sich an griechischen Zäunen, vor italienischen Küsten oder im Angesicht von marokkanischen Grenzbefestigungen abspielt - um vom Überleben südlich der Sahara gar nicht erst anzufangen.

Es gibt indes handfeste Gründe für die Ahnung, es entstehe hier etwas Neues und womöglich Bedrohliches. Für diese Flüchtlingsbewegungen gelten keine zwischenstaatlichen Verhältnisse mehr. Die Kritik, die den Staaten, aus denen die Flüchtlinge stammen, entgegengebracht wird, lautet vor allem, sie seien nicht in der Lage, ihre Bürger an der Flucht zu hindern.

Und es ist schlicht niemand da, mit dem ein italienischer Außenminister oder ein Kommissar der Vereinten Nationen verhandeln könnte, ganz abgesehen davon, dass es nichts gibt, worum man verhandeln könnte.

Tod oder Integration

Das gilt auch für die Staaten, durch die die Flüchtlinge reisen müssen, um sich etwa nach Italien einzuschiffen. Wer aber wollte sich daran erinnern, dass keiner dieser Elendsstaaten ohne lebhafte Begleitung durch die großen Mächte der Welt in seine gegenwärtige Lage geriet? Wer wollte noch wissen, dass es die westlichen Staaten selbst waren, die sich - am gründlichsten in Libyen - während des sogenannten arabischen Frühlings tatkräftig daran beteiligten, die alten Autokratien zu beseitigen, sodass deren Länder heute als Fluchtpassagen dienen können?

Angesichts solcher Verhältnisse hilft es nicht, immer wieder zu beteuern, Europa halte eine unkontrollierte Einwanderung nicht aus. Es könnte dagegen sein, dass den Staaten dieses Kontinents die Entscheidung abgenommen wird, was sie aushalten oder nicht - dadurch nämlich, dass die Einwanderung stattfindet und auf die Anliegen der jeweiligen Volkswirtschaft keine Rücksicht nimmt.

Je länger aber versucht wird, dieser Einwanderung neuen Typs dadurch gerecht zu werden, dass man auf den alten rechtlichen und ökonomischen Mitteln beharrt, desto härter werden die Alternativen. Am Ende heißen sie Tod oder Integration. Und weil das nicht sein darf, wird sich Europa öffnen müssen, so kontrolliert und überlegt, wie es eben geht.

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