IS-Terrormiliz im Irak:Im Würgegriff des Kalifen

Lesezeit: 2 min

Eine verzweifelte Frau am Ort eines Autobombenanschlags in einem schiitischen Viertel der irakischen Hauptstadt Bagdad (Foto: REUTERS)

Die Welt schaut auf Kobanê, wo Kurden gegen den "Islamischen Staat" kämpfen. Doch für den IS gibt es eine wichtigere Region: die Sunniten-Provinz Anbar im Irak. Hier werden die entscheidenden Schlachten geschlagen.

Kommentar von Tomas Avenarius, Kairo

Unter die Windungen seines Turbans blicken kann dem Kalifen Ibrahim keiner. Was der Anführer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) plant, wissen allenfalls seine Kommandeure und Berater. Aber man darf eines annehmen: Er plant Unerfreuliches. Sein Gottesstaat akzeptiert keine Grenzen, respektiert keine Andersdenkenden, preist blanke Barbarei als Ausdruck islamischer Reinheit an.

Luftangriffe der USA bleiben Nadelstiche

Umso erschreckender ist, dass dem Kalifen und seinen Kämpfern derzeit offenbar niemand Einhalt gebieten kann. Die Luftangriffe der von den USA angeführten Allianz bleiben Nadelstiche, auch wenn dabei 250-Kilo-Bomben zum Einsatz kommen. Bodentruppen will mit gutem Grund keine ausländische Regierung stellen, weder für den Kampf im Irak noch in Syrien. Und wer auf die Zuverlässigkeit und Schlagkraft der irakischen Armee im Kampf gegen den IS setzt, sollte mit Enttäuschungen leben können.

In Kobanê, dem seit Wochen umkämpften kurdischen Städtchen in Syrien, scheinen es die Dschihadisten wissen zu wollen. Der Ort an der türkischen Grenze ist wichtig. Dort laufen Schmuggelrouten zusammen, über die Kämpfer, Waffen und Geld ins Land gelangen. Der Durchbruch im Kampf um das Kalifat wäre die Eroberung von Kobanê aber sicher nicht.

Trotz aller islamistischen Propaganda von einem grenzenlosen - irgendwann gar weltweiten - Gottesstaat kann das IS-Kalifat in der Realität im Moment nur eines werden: ein Sunniten-Staat im Irak, mit einem ausgedehnten Wurmfortsatz in Syrien.

Der Kampf um den Irak aber entscheidet sich nicht im syrischen Kobanê, sondern in Bagdad. Und da rücken die Kämpfer des Kalifen, von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbeachtet, immer weiter voran. Angeblich kontrollieren die Militanten bereits zwei Drittel der irakischen Provinz Anbar. Es ist die größte Provinz des Landes, und sie grenzt an Bagdad.

Umkämpfte Grenzstadt in Syrien
:IS-Großoffensive auf Kobanê beunruhigt die Türkei

Die Kämpfe um das syrische Kobanê, das den Dschihadisten des Islamischen Staats in die Hände zu fallen droht, belasten auch die Nachbarländer. Nach einer mysteriösen Mordserie wächst in der Türkei die Angst vor innenpolitischen Spannungen.

Von Christiane Schlötzer

Der Rückhalt des IS unter den irakischen Sunniten ist groß: Sie rebellieren, weil sie sich von Bagdad - meist zu Recht - benachteiligt fühlen. Während der USBesatzung hieß Anbar "Friedhof der Amerikaner". Auch der spätere Widerstand gegen die schiitische Zentralregierung in Bagdad konzentrierte sich auf die Wüstenprovinz. Anbar ist ein Extremistennest, ein irakisches Waziristan. Und damit für den IS das Sprungbrett in Richtung Bagdad.

Irakische Armee bleibt ein Lotterhaufen

Irakische und amerikanische Offizielle raunen seit Wochen, die Lage in Anbar sei "bedrohlich" oder "besorgniserregend". Das ist zurückhaltend ausgedrückt. Die Stadt Falludscha ist in der Hand des IS, die Provinzhauptstadt Ramadi bleibt umkämpft. Auch die sunnitischen Stammesführer, die sich noch nicht auf die Seite des Kalifats gestellt haben, schlagen Alarm.

Ihre Dörfer werden von den Militanten ebenso belagert und ausgehungert wie die Garnisonen und Stützpunkte der irakischen Armee. Der IS "ähnelt einem Oktopus, der einem mitten im Gesicht klebt", so ein Diplomat über die Allgegenwart der Militanten in Anbar.

Doch in Bagdad tut sich wenig. Der neue Regierungschef Haidar al-Abadi hat endlich sein Kabinett komplettiert. Er scheint sich aber mehr auf die Grabenkämpfe mit seinem Vorgänger Nuri al-Maliki zu konzentrieren als auf den Kampf gegen den Islamischen Staat an den Rändern der Hauptstadt. Die irakische Armee bleibt ein Lotterhaufen. Von den 60 000 Mann in Anbar sollen bestenfalls 20 000 auf ihrem Posten sein, die restlichen Männer kassieren ihren Sold als Geistersoldaten.

Schiitische Milizen können diese kampfunfähige Armee nicht ersetzen. Sie gehorchen nicht der Bagdader Regierung, sondern ihren religiösen Führern. All das spielt dem Kalifen Ibrahim in die Hände. Es wäre erstaunlich, wenn er seine Chance nicht nutzen würde.

© SZ vom 24.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: