Tunesien:Der Jasmin ist verwelkt

Parlamentswahl in Tunesien

Die Tunesier wählen ein neues Parlament: ein Mann vor Wahlplakaten in Tunis

(Foto: dpa)

Auf die Jasmin-Revolution folgt Ernüchterung: Viele Tunesier sind davon enttäuscht, wie wenig sich ihr Land in den vergangenen dreieinhalb Jahren verändert hat. Das hat auch Auswirkungen auf die Parlamentswahl am Sonntag.

Von Paul-Anton Krüger, Tunis

Es sind Bilder, die tiefe Emotionen wecken bei vielen Tunesiern. "7 ½" heißt die neue Dokumentation des bekannten Filmemachers Nejib Belkadhi, die seit dem 1. Oktober in den Kinos läuft. Sie versetzt die Menschen zurück in die Zeit der Revolution. Mehr als 200 Stunden hat der 44-Jährige damals gedreht, von der Flucht des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali bis zu den ersten freien Wahlen am 23. Oktober 2011. "23 Jahre waren wir an den Rand gedrängt, aber in zwei Monaten haben wir uns ein politisches Bewusstsein geschaffen. Da haben wir angefangen, uns frei zu fühlen", ruft am Anfang des Films ein junger Mann. "Und jemand, der endlich zu atmen gelernt hat, hält sich nicht mehr die Nase zu!"

Die Luft haben sich die Tunesier in den dreieinhalb Jahren seither nicht mehr abdrücken lassen. Doch den Duft von Jasmin, der ihrer Revolution den Namen gab, werden nur wenige noch in der Nase haben, wenn sie am Sonntag ihre Stimme für die Parlamentswahl abgeben. "Es gibt so eine kranke Ben-Ali-Nostalgie", sagt Belkadhi, "Manche der Leute, die für ihn gearbeitet haben, sind zurück." Deshalb will er in Erinnerung rufen, was 2011 geschehen ist: die Euphorie über die ersten freien Wahlen, aber auch die unhaltbaren Versprechen der Parteien. "Vergesst das nicht, wenn ihr wählen geht!" Das ist seine Botschaft.

Zumindest die Sehnsucht nach einer Vaterfigur ist wieder verbreitet. Spüren lässt sie sich, wenn Béji Caïd Essebsi auftritt - etwa in Hammam Lif, eine halbe Autostunde von Tunis. Überlebensgroß blickt er vom Transparent an der Hauswand, links und rechts daneben tunesische Flaggen. Einige Hundert Menschen haben sich versammelt im Zentrum des 35 000-Einwohner-Ortes. "Béji, Béji", skandieren sie, als er den Balkon betritt - es ist ein Heimspiel, er war zu Beginn seiner Karriere Bürgermeister hier.

War vor der Revolution alles besser?

Staatsgründer Habib Bourguiba berief ihn dann in den Sechzigern zum Innenminister, später war er Außenminister. Als Ben Ali 1987 die Macht an sich riss, trat Bajbouj, wie sie ihn hier auch nennen, der Systempartei RCD bei, stand der Abgeordnetenkammer vor, bis er sich 1991 aus der Politik zurückzog. Heute ist der 87-Jährige Vorsitzender der 2012 von ihm gegründeten Partei Nidaa Tounes, in der sich säkulare Kräfte sammeln, ebenso wie gemäßigte Linke und Liberale, aber auch einstige RCD-Mitglieder. Sie rechnet sich gute Chancen aus, stärkste Kraft zu werden - und ihr Chef ist zugleich aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentenwahl in vier Wochen.

Welche Ziele die Partei verfolgt, das findet Khnais, 23 Jahre alt und Kellner, gar nicht so wichtig. "Politik ist mir egal. Mich interessiert nur Béji", sagt er. Und so wird der junge Mann im roten T-Shirt Nidaa wählen, weil "mit Essebsi alles besser wird". Vor der Revolution sei "eh alles besser gewesen", meint er - was dann doch auf Widerspruch trifft. Damals wäre eine solche Versammlung undenkbar gewesen, ruft ihm einer zu. Und Khnais rudert kleinlaut zurück. Na ja, man brauche beides - Meinungsfreiheit und Lebensqualität.

Was er mit vielen Tunesiern gemein hat, ist das diffuse Gefühl, dass sich nichts geändert hat seit 2011. Ernüchterung hat sich breitgemacht. Die Sicherheitslage ist gespannt, am Donnerstag gibt es wieder Tote bei einer Schießerei zwischen Sicherheitskräften und mutmaßlichen Terroristen. Die Wirtschaft stottert, die Zentralbank hat ihre Wachstumsprognose auf gut zwei Prozent gesenkt. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 15 Prozent, unter Universitätsabsolventen ist sie doppelt so hoch. Zehntausende von ihnen müssen sich mit Hilfsjobs über Wasser halten, dabei waren es gerade sie, die für die Revolution auf die Straße gegangen sind. "Arbeit! Freiheit! Würde!", lautete ihr Slogan, doch an ihrer Misere hat sich wenig geändert - vielleicht ein Grund, warum 4000 bis 5000 Tunesier bei der Terrormiliz Islamischer Staat angeheuert haben, mehr als aus jedem anderen Land.

Stolz auf Tunesiens Entwicklung

Nidaa Tounes electoral campaign rally

Der 87-Jährige Béji Caïd Essebsi von der Partei Nidaa Tounes gilt als aussichtsreicher Kandidat für die kommenden Wahlen.

(Foto: Mohamed Messara/dpa)

Enttäuscht sehen viele Menschen aber auch ihre Hoffnungen in Ennahda, jene islamistische Partei, die 2011 mit Abstand die meisten Mandate in der Verfassungsgebenden Versammlung gewonnen hatte und in Umfragen zuletzt an zweiter Stelle lag. "Ich trage den Hijab, ich respektiere die Regeln des Islam, trotzdem wähle ich sie nicht", ruft Karima, 41, und Mutter von drei Kindern in Hammam Lif. "Wir wollen nur ein normales Leben, aber sie haben nichts für uns getan." Ein älterer Mann fällt ein: "Ich habe sie beim letzten Mal gewählt, und ich bereue es." Nur die eigenen Leute hätten sie im Staatsapparat untergebracht.

Das will Ex-Premier Ali Larayedh nicht auf sich sitzen lassen. Ennahda sei die transparenteste aller Parteien, sagt er der Süddeutschen Zeitung. Man habe allerdings jene Personen austauschen müssen, die korrupt gewesen seien. Das habe das Volk verlangt. Nur Ennahda besitze "die Glaubwürdigkeit, ein neues Tunesien zu schaffen und mit dem alten Regime Schluss zu machen" - er selbst wurde unter Ben Ali in jahrelanger Einzelhaft gefoltert. Doch von der Idee eines radikalen Schnitts hat sich die Partei verabschiedet. Sie strebt eine Regierung der nationalen Einheit an, ein Zusammengehen mit Nidaa Tounes eingeschlossen - was Essebsi bislang ablehnt, wirbt er doch vor allem damit, dass jede Stimme, die nicht an Nidaa Tounes gehe, eine Stimmer für die Islamisten sei.

Zur Frustration beigetragen hat auch der mühselige Verfassungsprozess, der nach einem Jahr hätte abgeschlossen sein sollen. Aber erst im Herbst 2013 willigte Ennahda in einen nationalen Dialog ein und gab die Macht an eine Technokraten-Regierung ab. Der Streit hatte das Land paralysiert. Politische Gewalt griff um sich, viele Tunesier lasteten Ennahda eine Mitschuld an der Ermordung der Oppositionellen Chokri Belaïd und Mohamed Brahmi an.

Lehren aus Ägypten

Larayedh stellt das Einlenken von Ennahda gerne als seine Initiative dar, doch war der Druck enorm: Es kam zu Massenprotesten und Generalstreiks, die internationalen Geldgeber drohten, ohne rasche Reformen dringend nötigte Kredite nicht auszuzahlen. Und in Kairo jagte das Militär den islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi vom Hof. Aus den Ereignissen in Ägypten habe Ennahda die Lehre gezogen, "nicht nach politischer Dominanz zu streben, sondern den Dialog mit anderen Kräften zu suchen", räumt Larayedh offen ein.

Bei allen Problemen, vor denen Tunesien steht, es ist dennoch das einzige der Revolutionsländer, das nicht wieder zum Polizeistaat geworden ist oder in Krieg und Chaos versinkt. Die Tunesier könnten stolz sein auf ihr Land. Es besitzt eine starke Zivilgesellschaft, angeführt von der Gewerkschaft UGTT, die alle Parteien an einen Tisch brachte und zusammen mit den Arbeitgebern, der Anwaltskammer und der Menschenrechtsliga den nationalen Dialog moderierte, der nun in die Wahlen mündet. "Es war völlig verrückt zu glauben, dass sich nach der Revolution alles sofort ändern würde", sagt Filmemacher Belkadhi. "Das wird ein, zwei Generationen dauern."

Aus diesem Gedanken erklärt sich auch der kryptische Titel 7 ½: Die Sieben ist eine Chiffre für das System Ben Ali. Der hatte am 7. November 1987 das Präsidentenamt übernommen, was jedes Jahr mit mehr karnevaleskem Pomp als Nationalfeiertag gefeiert wurde. Sogar der erste Kanal des Staatsfernsehens benannte sich in Tunisie7 um. "Das ½ steht dafür, dass Tunesien die Diktatur hinter sich gelassen hat", erklärt Belkadhi. "Aber wir sind noch nicht bei acht oder zehn" - bei einer reifen, stabilen Demokratie. "Das ist noch ein laanger, laanger Weg."

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