Einwanderer erzählen:"Wir Ägypter machen gute Pizza, und dafür gibt es einen Grund"

Sie sind Fremde und doch zu Hause in Europa. Einwanderer aus Russland, Brasilien und Ägypten erzählen von ihrem Weg nach München, Paris und Mailand. Es sind verworrene Wege, oftmals steinig - und immer spannend.

Eine Kooperation der SZ mit Le Monde, Paris, und La Stampa, Turin

Einwanderer erzählen: Der IT-Spezialist Alexander Novikov

Der IT-Spezialist Alexander Novikov

Der russische Computer-Spezialist Alexander Novikov aus Sankt Petersburg vermisst zwar das Meer, fühlt sich sonst aber sehr wohl in München.

Er vermisst das Meer. Natürlich vermisst er das Meer. Es ist jetzt weit für ihn bis zu den vertrauten Brandungen, den Booten, und auch zu den Zugbrücken der Stadt, die in der Nacht der Reihe nach hochgezogen werden, damit auch die größeren Schiffe die Newa passieren können. Alexander Novikov kommt aus Sankt Petersburg, Russland. Seit drei Jahren lebt er in München.

Ein Migrant, der wie viele andere in den vergangenen zwei Jahrzehnten aus dem großen Land im Osten nach Deutschland ausgewandert ist. Man hört seitdem viel Russisch in München und seiner Umgebung, wie auch in Berlin, Köln, Hamburg. Die meisten der Ankömmlinge sind Russlanddeutsche, Nachkommen jener Deutschen, die einst unter Katharina der Großen nach Russland gelockt worden waren; und dann sind da auch jüdische, sogenannte Kontingentflüchtlinge, die Deutschland aufgenommen hat. Für Novikov sind sie alle potenzielle Kunden.

Er sprach kaum Deutsch, kaum Englisch, und schlägt sich mit allen möglichen Jobs durch

Der 29 Jahre alte Petersburger ist Computerspezialist, ausgebildeter Ingenieur, System-Administrator. Aber das hat ihm bei der Arbeitssuche in Deutschland anfangs auch nicht geholfen. Er sprach noch zu wenig Deutsch, kaum Englisch, und so schleppte er sich zunächst mit allen möglichen Jobs durch, auch im Supermarkt. Dann hat er in Deutschland eine Chance bekommen, vielmehr: Er hat sie selbst erspäht. Novikov hat sich selbständig gemacht.

Zwei Jahre war er da schon in Deutschland. Als Russe war ihm das nicht gleich eingefallen. Wie auch? "Ohne Beziehungen hast du in Russland praktisch keine Chance, eine Firma zu gründen", sagt er. In München schon. "Zehn Minuten, 40 Euro, und schon hatte ich praktisch meine eigene Firma", erzählt er. "In Russland wäre das niemals so leicht und schnell gegangen." Auch wegen der Bürokratie.

Jetzt ist Russisch so etwas wie seine Arbeitssprache

Die Frage der Integration stellt sich für Novikov kaum. Er ist mit einer Deutschen verheiratet. Deutsch spricht Novikov jetzt so fließend, dass er schon Sorge hatte, das Russische mehr und mehr zu vergessen. Aber jetzt ist Russisch so etwas wie seine Arbeitssprache. Seit einem Jahr repariert er als Computermeister Laptops und PCs, installiert Betriebssysteme, kuriert Computer vom Virenbefall, berät, schließt Geräte an, wartet sie.

Sein Kundenstamm: russisch-deutsche Firmen, Russen, russischsprechende Russlanddeutsche. Sie alle sind froh, dass da einer in einem komplexen Fach ihre Sprache spricht. Der weiß, dass im Russischen der Computer nicht abstürzt, sondern bremst. Das schafft Nähe, Vertrauen, fern der gemeinsamen Heimat. Seine Eigenwerbung bietet er deshalb gleich in beiden Sprachen an.

Nicht alle sind wegen einer deutschen Frau nach Westen gegangen

Groß ist die russische Gemeinde in Deutschland, und natürlich ist Alexander Novikov nur einer aus dem Heer von IT-Spezialisten aus Sankt Petersburg, Moskau oder Jekaterinburg, die in Europa arbeiten. Nicht alle sind wegen einer deutschen Frau diesen Weg nach Westen gegangen. Für andere hat auch Geld eine Rolle gespielt. Russland ist für Fachkräfte vergleichsweise noch immer ein Niedriglohnland.

"In den USA kann ein Programmierer in acht Stunden am Tag das Zehnfache von dem in Russland verdienen", sagt Novikov. Auch in Europa, in Deutschland? "Mein Preis ist etwas niedriger", sagt er, schmunzelnd. "Aber das Gehalt ist immer noch deutlich höher als in meiner Heimat."

Gern würde er expandieren, einen ersten zusätzlichen Mitarbeiter einstellen, so viel Traum muss sein. Aber einen Traum hat er nicht: eines Tages zurückzukehren nach Russland. "Ich kann mir das nicht vorstellen, die Lebensqualität hier ist sehr hoch", sagt er. Auch sein Münchner Wohnviertel Hasenbergl, das den Ruf eines sozial schwachen Stadtgebiets hat, macht Novikov nicht eine Spur empfänglich für eine Rückkehr. "Ich fühle mich integriert, ich fühle mich wohl. Für Deutsche mag das Viertel zwar eine Art Ghetto sein. Aber der Hausmeister macht jeden Morgen sauber."

F. Nienhuysen (SZ)

Der Darmchirurg Renato Lupinacci aus Brasilien

Einwanderer erzählen: Der Chirurg Renato Lupinacci

Der Chirurg Renato Lupinacci

(Foto: Julie Balagué/le Monde)

Der brasilianische Darmchirurg Renato Lupinacci hat eine feste Stelle an einer Pariser Klinik erhalten. Um sein Französisch zu verbessern, las er Romane von Hugo und Zola.

Er ist Brasilianer, hat auch einen italienischen Pass, doch er praktiziert in Paris: Renato Lupinacci ist Darm-Chirurg an der Pitié-Salpêtrière, der größten öffentlichen Klinikgruppe der französischen Hauptstadt - einer hervorragenden Adresse. Der 28-Jährige gehört zu den etwa 20 000 Ärzten mit einem ausländischen Abschluss in Frankreich. Derzeit macht diese Gruppe fast 10 Prozent der medizinischen Profis im Land aus, Anteil steigend.

Warum Frankreich? Mit einem Darm-Chirurgen als Vater und einem Studium an der renommierten Fakultät von São Paulo hätte Lupinacci auch in Brasilien Karriere machen können. Doch er wollte etwas Neues ausprobieren. Er dachte zunächst an die USA, doch er hätte dort von Beginn an forschen müssen. Also Europa. Italien, Frankreich, Deutschland?

Mit Italien hat er kaum mehr Verbindung

Mit Italien hatte er kaum mehr Verbindung, und die deutsche Sprache erschien ihm zu schwierig. Also entschied er sich für Paris. Die französische Darm-Chirurgie hat einen guten Ruf, und seine Uni unterhält eine Partnerschaft mit der Dachorganisation der öffentlichen Krankenhäuser in Paris. Das machte es Lupinacci einfacher, Stelle und Wohnung zu finden und an ein Visum zu kommen.

Als er 2006 ankam, arbeitete er zunächst als Assistenzarzt, dann als "practicien attaché associé": Auf dieser Position arbeiten eingewanderte Ärzte, solange sie auf ihre Zulassung warten. Ihr Status und ihr Gehalt sind niedriger als bei den Kollegen mit französischem Diplom; der Zustand kann Jahre dauern.

Renato Lupinacci hat es anders angestellt. Dank seiner Großeltern, die aus Italien nach Brasilien ausgewandert waren, erlangte er die italienische Staatsangehörigkeit und damit Zugang zum Schengen-Raum. 2007 machte er einen medizinischen Abschluss in seiner Sprache in Portugal. Dadurch hatte er das Recht auf einen vereinfachten Zulassungsprozess in Frankreich, wohin er 2011 zurückkehrte, nachdem er eine Französin geheiratet hatte.

Er musste sich an "sehr franko-französischen" Konzepte gewöhnen

Nach einer Teilzeit-Phase fand er schließlich seinen jetzigen Job. Es scheint sich zum Guten zu wenden für ihn. Natürlich musste er sich an die etwas andere medizinische Praxis und ihre "sehr franko-französischen" Konzepte gewöhnen. Dann war da die Sprachbarriere , die für seine Kollegen aus Afrika und dem Maghreb weniger ein Problem bedeutete.

Lupinacci tat viel dafür, um sie zu überwinden: "Hugo, Zola - ich habe 40 Bücher in einem Jahr gelesen", sagt er. "Fußball und Samba", diese Seite der Brasilianer bringe ihm viel Sympathie bei den Patienten ein. "Es ist einfach für mich", sagt er, "ich bin nicht sicher, ob das überall so wäre."

Ärzte mit europäischen Abschlüssen kommen vorrangig aus Rumänien und Belgien

Wie Lupinacci kommen etwas mehr als die Hälfte der nach Frankreich eingewanderten Mediziner aus außereuropäischen Ländern: 55 Prozent aus den Maghreb-Staaten, vor allem aus Algerien; 10 Prozent aus Syrien. Die 9000 ausländischen Ärzte mit europäischen Abschlüssen kommen vorrangig aus Rumänien und Belgien.

Zwei Drittel dieser ausländischen Mediziner werden von Krankenhäusern rekrutiert, vor allem für Notaufnahme und Chirurgie. Ohne sie wäre es um das öffentliche Gesundheitswesen in Frankreich schlecht bestellt.

L. Clavreul, E. Vincent (Le Monde)

Der Pizzabäcker Khalil, genannt Franco, aus Ägypten

Franco, pizzaiolo egiziano nel suo locale Pizzeria La Stiva

Pizzabäcker Franco aus Ägypten.

(Foto: Nicola Marfisi/Fotogramma for La Stampa)

Der Pizzabäcker Khalil, gennant Franco, aus Ägypten besitzt in Mailand ein eigenes Restaurant. Trotz aller Heimat-Nostalgie stellt der Unternehmer vom Nil nur Italiener ein

"Pizza? Wir Ägypter machen sie gut, und dafür gibt es einen Grund", sagt Khalil. "Ägypten war lange ein bedeutender Agrarstaat, mit dem Nil als Gottesgeschenk. Das Verarbeiten von Wasser und Mehl hat bei uns Tradition." Daher arbeiten in vielen Pizzerien Italiens heute Araber.

Khalil, den alle Franco nennen, ist ein 52 Jahre alter Ägypter, der vor einem Vierteljahrhundert nach Italien eingewandert ist. Seit zehn Jahren betreibt er die Pizzeria "La Stiva" in Mailand. Sie liegt im Viertel um die Via Padova, in dem Menschen aus vielen Herkunftsländern leben.

Khalil ist beileibe kein Einzelfall

Khalil ist beileibe kein Einzelfall. In den großen Städten Norditaliens gibt es viele Pizzabäcker, die aus Ägypten stammen. Wie etliche andere traditionelle Berufe gehört das Kneten, Belegen und Backen des Symbolgerichts der italienischen Küche zu den Jobs, die Neubürgern offen stehen.

Als Meisterköche erweisen sich dabei die Menschen vom Nil. Mit flinken Händen und einem Lächeln im Gesicht erschaffen sie Tag für Tag die Magie der Pizza: mit knusprigem, leicht bekömmlichem Teig, dem besonderen Duft und typischen Geschmack. Inzwischen ist es nahezu unmöglich, zwischen einer Pizza all'italiana und einer Pizza all'egiziana zu unterscheiden.

Die Weltausstellung wird Abertausende Menschen in die lombardische Metropole bringen

In Italien leben heute mehr als 76 000 Menschen, die aus Ägypten stammen. Fast die Hälfte davon wohnt in Mailand, der Stadt der Mode und der Hast. Die Weltausstellung Expo im Jahr 2015 wird Abertausende Menschen aus der ganzen Welt in die lombardische Metropole bringen, um dort über Ernährung und Küche zu sprechen. Und gerade hier sind die Ägypter zu einer spezialisierten und unersetzlichen Gruppe geworden. Khalil erzählt: "Gleich als ich hier ankam, habe ich das Pizzabacken von einem damals 65 Jahre alten Neapolitaner gelernt.

Seine Söhne waren nach Süditalien zurückgekehrt, daher lehrte er mich seine Kunst. Heute beschäftige ich einen italienischen Küchenchef und biete meinen Kunden auch viele andere italienische Spezialitäten an. Aber den Pizzateig mache immer noch ich. So bin ich sicher, dass er gut wird."

Sie klagen heute über die Rezession und die Konkurrenz durch Chinesen

Echte neapolitanische Pizzabäcker sind in Mailand eine Seltenheit - vielleicht gibt es ein Dutzend von ihnen. Dagegen arbeiten hier bereits mehr als 120 Pizzabäcker, die aus Ägypten stammen. Und es werden immer noch mehr. Einige von ihnen sind junge Leute, Kinder von Immigranten, die in Italien geboren wurden und mit einem gewissen mailändischen Akzent sprechen. Andere sind älter, sie kamen oft in den Neunzigerjahren und haben sich - wie Khalil - zu Kleinunternehmern emporgearbeitet, denen eigene Lokale gehören.

Sie klagen heute über die Rezession und die Konkurrenz durch Chinesen. Auch da haben sie sich ganz den Italienern angepasst. "Als ich einst hierher kam, gab es weniger Ausländer und weniger Konkurrenz", sagt Khalil. "Die Krise hat dann wirklich alles verändert und schwieriger gemacht. Wir machen keinen Tag Urlaub und haben mittags und abends offen. Diese Arbeit erfordert viel Geduld und Aufopferung."

Sein Lokal ist bescheiden, aber aufgeräumt

Khalil lächelt ein wenig schüchtern, während er den Teig zubereitet. Sein Lokal ist bescheiden, aber aufgeräumt und sauber. An einem Tisch sitzt ein Mädchen und zeichnet. "Meine vier Kinder sind alle in Italien geboren, und meine Frau hilft im Restaurant mit. Aber ich habe auch fünf Angestellte und dafür nur Italiener ausgewählt.

So möchte ich etwas von dem zurückgeben, was ich hier bekommen habe." Ein bisschen Nostalgie aber bleibt. "Man kann das Land seiner Geburt und seine Jugendfreunde nie vergessen. Ich weiß, dass Ägypten erneut ein großes Land werden kann. Wenn die Dinge dort wieder gut laufen, werden alle aus dem Ausland heimkehren. In Italien bleibt dann kein Ägypter zurück."

S. Rizzato (La Stampa)

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