Geheimnisse:Einfach mal die Klappe halten

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Geheimnisse sichern Macht. Doch mit dem Geheimnis ist es heutzutage nicht mehr so weit her. Das zeigt auch die Geschichte des US-Elitekämpfers, der angeblich Osama bin Laden erschoss.

Von Hans Leyendecker

Die Aktion hieß "Operation Feuerzauber". Sie begann am 18. Oktober 1977 kurz nach Mitternacht, dauerte etwa sieben Minuten, und am Ende hatte eine Einheit der GSG-9 die 86 Passagiere und Besatzungsmitglieder der von vier palästinensischen Terroristen entführten Lufthansa-Maschine Landshut befreit.

Drei der vier Geiselnehmer wurden getötet, eine Terroristin überlebte. Kommandeur der Aktion, das ist bekannt, war Ulrich Wegener, der legendäre Gründer der Spezialeinheit. Aber wer damals schoss, wer traf, oder wer die Blendgranaten warf, ob es Müller, Meier oder Schulze waren, hat die Nation nie erfahren. "Wir haben geschossen", hat Wegener immer gesagt, wenn er über Mogadischu sprach.

Es ist schon ein bisschen ungewöhnlich, dass der US-Elitekämpfer, der nach eigenen Angaben Osama bin Laden erschoss, das Geheimnis um die letzten Sekunden im Leben des Terrorchefs der Welt nun unbedingt erzählen will. Geld ist doch nicht alles. Normalerweise schweigen zumindest die Mitglieder von Spezialeinheiten. Das gehört sich so in diesen Kreisen.

Navy Seal Robert O'Neill
:"Bin Laden hatte seine Hände auf den Schultern einer Frau"

US-Spezialeinheiten haben die Pflicht zum Schweigen. Mit seiner Behauptung, Osama bin Laden getötet zu haben, bricht Robert O'Neill den Ehrenkodex - und muss mit Ärger rechnen. Dabei ist unklar, ob er wirklich die tödlichen Schüsse abgefeuert hat.

Von Johannes Kuhn

Andererseits: Im Zeitalter der fortwährenden Enthüllung von irgendetwas werden immerzu irgendwelche Geheimnisse gelüftet. Wer nach der angeblichen Aufklärung von Komplotten und Weltereignissen wie dem 11. September oder dem Attentat auf John F. Kennedy im Internet forscht, hat die Wahl zwischen Millionen angeblicher Enthüllungen: Der Mann mit dem Schirm war es, die CIA, der Mossad, die Russen - die üblichen Verdächtigen halt.

Mit dem Geheimnis ist es in einer Zeit, in der μMenschen selbst im Zug ihre Bettgeheimnisse Telefonen anvertrauen, nicht so weit her. Es gibt zwar eine App, die "Secret" heißt und der man angeblich seine dunkelsten Geheimnisse anvertrauen kann. Aber darf man ihr trauen?

Geheim ist oft auch, wer Geheimnisträger ist und wer nicht

Generell gilt, dass alle Organisationen auf diesem Planeten Geheimnisse kennen. Es gibt Geschäftsgeheimnisse, Quellenschutz, und auch die Wirtschaftsprüfer, Steuerberater haben Verschwiegenheitspflichten. Diese Aufzählung könnte man endlos fortsetzen.

"Jede auf Kontinuierlichkeit eingerichtete Herrschaft", schrieb der Soziologe Max Weber in seinem Werk "Wirtschaft und Gesellschaft", sei "an irgendeinem Punkt Geheimherrschaft". Auch die heutigen Herrschaftssysteme wollen sich gegen innere und äußere Feinde absichern. Geheim ist oft auch, wer Geheimnisträger ist und wer nicht. Es gibt Amtsgeheimnisse, Verschlusssachen - und immer noch das alte Staatsgeheimnis. Im Strafgesetzbuch existiert sogar eine besondere Schutzvorschrift, dass derjenige wie ein Landesverräter bestraft werden kann, der etwas verraten hat, was überhaupt kein Staatsgeheimnis war. Das nennt man den "Verrat in irriger Annahme eines illegalen Geheimnisses". (Paragraf 97b)

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:Bin Ladens Todesschütze - Held oder Verräter?

Der Todesschütze des Terroristenführers Osama bin Laden enthüllt in der Washington Post seine Identität. Damit missachtet er einen entscheidenden Grundsatz im Verhaltenskodex des US-Militärs. Darf sich Robert O'Neill öffentlich als Held feiern lassen?

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Was geheim ist oder nicht, hängt von den jeweils Herrschenden ab. Das ist so wie bei den Gesetzen. Oft genügt ein einfacher Gummistempel, um eine Sache zum Geheimnis zu erklären. Das liebt die Bürokratie ganz besonders. In Untersuchungsausschüssen beispielsweise tauchen immer wieder Aktenstücke auf, in denen weiße Blätter als vertraulich gestempelt sind. Der Grund ist aus Sicht der Beamten nachvollziehbar: Irgendjemand hat den gesamten Vorgang, in dem es natürlich auch bedruckte Seiten gibt, für vertraulich erklärt.

Für Geheimdienste ist das Geheimnis eine Grundlage ihrer Existenz. Das Geheimnis macht nicht nur wichtig, sondern lässt die Kritiker oft ins Leere laufen. Die werden mit der unwiderlegbaren Antwort konfrontiert: "Sie haben unrecht, weil Sie nicht wissen, was wirklich los war, und wir können/dürfen Ihnen nicht sagen, was passiert ist, weil das geheim ist." Ein vollständig transparenter Geheimdienst "ist ein Widerspruch in sich", stellte 1981 der Staatsrechtler Christoph Gusy fest. "Was das Volk nicht weiß, macht das Volk nicht heiß", schrieb Heinrich Kleist 1810 in den Berliner Abendblättern.

Früher wurde der Chef des 1912 gegründeten legendären britischen Geheimdienstes MI6 lediglich "C" genannt. Nur wenigen Kabinettsmitgliedern war seine Identität bekannt. Beim israelischen Mossad war es ähnlich. Der Name des aktuellen Chefs des Mossad wird erst seit Mitte der Neunzigerjahre bekannt gegeben.

Die Kanalarbeiter im Reich des Bösen pflegen also gern eine geradezu viktorianische Diskretion. Aber natürlich gibt es auch noch viele Geheimnisse, die zu lüften wären. Wer hat zum Beispiel beim Misstrauensvotum gegen Willy Brandt im April 1972 wie abgestimmt? Bei der Abstimmung hatten der Opposition zwei Stimmen gefehlt. Waren es wirklich die bekannten Verdächtigen?

Ex-Navy-Seal
:Dieser Mann will Osama bin Laden erschossen haben

Der ehemalige Elitesoldat, der den tödlichen Schuss auf Al-Qaida-Anführer Osama bin Laden abgefeuert haben will, gibt sich zu erkennen. Der 38-Jährige geht trotz Kritik von US-Militärs an die Öffentlichkeit. Seine Version der Geschichte ist allerdings nicht die einzige.

Und: Wer ist der legendäre "Heide-Mörder"? Nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein im Jahr 2005 hatte die Sozialdemokratin Heide Simonis versucht, eine vom Südschleswigschen Wählerverband tolerierte rot-grüne Minderheitsregierung zu bilden, aber sie bekam in vier Wahlgängen keine Mehrheit, weil jemand aus dem eigenen Lager ihr die Stimme verweigerte. Der Verräter wurde nie gefunden.

Was ist mit Helmut Kohl, den Millionen und den angeblichen Spendern? Großes Ehrenwort-Geheimnis oder doch Geld aus staatlichen Kassen oder den Restbeständen der versenkten Geldwaschanlage Staatsbürgerliche Vereinigung? Wie starb Uwe Barschel? Selbstmord, Sterbehilfe oder doch Mord? Es gibt Geheimnisse, die wohl nie geklärt werden.

Aber manchmal hilft auch die Zeit bei der Aufklärung. Eine der größeren Staatsaffären in Frankreich war Mitte der Sechzigerjahre die Verschleppung des marokkanischen Oppositionspolitikers Mehdi Ben Barka in Paris. Er wurde, das stand fest, von Agenten entführt und ermordet. Die Tat wurde nie vollständig aufgeklärt. Es gab einen Prozess gegen einen angeblichen Drahtzieher, der mit Freispruch endete. Und eine Verurteilung zu einer langen Haftstrafe in Abwesenheit eines Angeklagten. Ein ewiges Geheimnis, so schien es. In diesen Tagen aber, fast fünfzig Jahre danach, hat ein früherer Beamter des marokkanischen Geheimdienstes in den Medien ausgepackt. Bis zur Versenkung des Leichnams des Opfers in einem mit Säure gefüllten Stahlbehälter schilderte er in allen Details die Tat.

Die Leiche des Opfers habe sich in der Säure aufgelöst, den Tipp für die Konstruktion des Stahlbehälters habe ein amerikanischer Agent gegeben.

Aber - war es wirklich so?

© SZ vom 08.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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