Syrische Bloggerin Marcell Shehwaro:"Ich will nicht die unterdrückte Christin sein"

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Sie hat gegen Assad demonstriert, hat sich mit Gotteskriegern angelegt und musste fliehen. Ihre Mutter starb durch die Schüsse syrischer Soldaten. Geschichten wie die der Bloggerin Marcell Shewaro geraten angesichts der Gräueltaten des Islamischen Staats beinahe in Vergessenheit. Eine Begegnung in Berlin.

Von Hannah Beitzer

Assad und ISIS? The Same Shit! Der gleiche Scheiß. So steht es in Marcell Shehwaros Twitter-Profil, so steht es auf den Aufklebern, die sie gemeinsam mit anderen Aktivisten entworfen hat. Marcell Shehwaro ist 30 Jahre alt, Bloggerin, syrische Aktivistin und gerade zu Besuch in Europa. Sie erklärt auf Veranstaltungen in verschiedenen Städten, warum es sie stört, von Ausländern immer als Erstes nach dem IS gefragt zu werden. So auch in Berlin. "Die Leute denken jetzt, wenn sie an Syrien denken: Das hier ist ein Krieg gegen den Islamischen Staat", sagt sie. "Es passt einfach so gut: Der Kampf des Westens gegen die bösen Moslems."

Ihr ist es wichtig, dass das, was seit Jahren in ihrem Land vorgeht, in kein derartiges Raster passt, dass die Menschen nicht wie gebannt auf die Gräueltaten der IS-Terroristen blicken. Sondern den Blick darauf richten, wer sonst noch in Syrien lebt und kämpft. Dem IS zum Trotz. Sie schreibt deswegen über ihr Leben, das sich seit 2011 nur noch um den Umsturz in ihrem Land dreht. Wieder und wieder erzählt sie ihre Geschichte - immer ein wenig in der Angst, dass auch ihr Leben zu einer jener Schwarz-Weiß-Geschichten werden könnte, die sie verhindern will.

Shehwaro ist Christin, ihr Vater war Priester. Sie hat dunkle Haare, ein weiches Gesicht. Shehwaro lebt inzwischen in der Türkei, kommt aber aus Aleppo, aus dem Teil der Stadt, der bis heute von den Leuten des syrischen Machthabers Baschar al-Assad kontrolliert wird. Bereits im April 2011 geht sie mit anderen auf die Straße. "Nach dem Fall von Mubarak in Ägypten wollten wir auch eine Revolution", sagt sie. Mit friedlichen Mitteln.

"Shiny period" - helle Phase - nennt sie diese Zeit heute. Sie hält nicht lange an. Shehwaro und ihre Freunde geben sich kaum Mühe, ihre kritische Haltung zu verbergen. So sehr glauben sie daran, dass sie ihr Land friedlich verändern können. Sie und einige Freunde geraten schnell ins Blickfeld des Regimes. Im Juli fliehen sie in den Libanon, dann weiter nach Ägypten. Zwei Monate bleibt Shehwaro da, dann kommt sie zurück nach Aleppo.

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Dort ist längst nichts mehr friedlich, nichts mehr gut. Es ist Krieg. Kurze Zeit später stirbt Shehwaros Mutter. Soldaten erschießen sie bei einer Straßenkontrolle. Das Auto, in dem sie saß, hatte eine Richtung eingeschlagen, die den Kontrollposten nicht gefiel. Shehwaros Mutter war nicht politisch aktiv. Sie war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Tochter organisiert eine kleine Zeremonie für die Tote. Das genügt, um das Misstrauen des Regimes abermals auf sich zu ziehen. Jede Woche muss Shehwaro zum Verhör erscheinen, ein Priester begleitet sie. Doch irgendwann wird es dem zu gefährlich, sie soll das Land verlassen. Shehwaro zieht nach Großbritannien, beginnt zu studieren - doch der Gedanke an zu Hause lässt sie nicht los.

"Ich flog ständig zwischen England und Syrien hin und her", sagt sie. Sie hat ein schlechtes Gewissen, ihre Freunde einfach zurückzulassen in einem Land, das im Krieg versinkt. Das Studium? Nebensächlich. Schließlich kehrt sie ganz in die umkämpfte Stadt zurück, allerdings nicht in ihre alte Nachbarschaft, sondern in eine Gegend, die von den Rebellen kontrolliert wird. Sie kann das Viertel, das sie "befreites Gebiet" nennt, nicht verlassen. Aus ihrer alten Nachbarschaft dringen keine Nachrichten zu ihr durch.

Shehwaro versucht, nicht an das System zu denken

Sie erzählt auch von Kindern, die inzwischen tagsüber auf der Straße statt in der Schule sind. Denn die Lehrer sind längst weg, geflohen. Die Rebellen bezahlen sie nicht, selbst die, die anfangs freiwillig weiter unterrichteten, brachten irgendwann sich und ihre Familien in Sicherheit. "Die Kinder sind völlig verrückt nach den Waffen, die sie überall auf der Straße sehen", erzählt Shehwaro. "So sollte kein Kind aufwachsen." Shehwaro gründet gemeinsam mit anderen Aktivisten eine Schule, mehr und mehr Kinder kommen. "Am Anfang hatten wir eine Schule, dann fünf, dann zehn."

Den großen Umsturz, wie noch 2011, plant sie nicht mehr. Heute sagt sie über den Beginn der Revolution: "Vielleicht war das unser größter Fehler: Dass wir dachten, es reicht nicht, sich um den Einzelnen zu kümmern. Dass wir gleich alles wollten." Ob ihr Land irgendwann eine Demokratie wird? Sie weiß es nicht. Sie versucht jetzt lieber an die Kinder in der Schule zu denken, nicht an das System.

"Wir haben Schuldgefühle und fühlen uns verantwortlich für das Land"

Doch auch das ist schwer. Denn wirklich frei ist Shehwaro nicht in den "befreiten Gebieten". Sie trägt keinen Schleier. "Jeder sieht, dass ich anders bin", sagt sie. Im März 2014 nimmt sie ein selbsternannter Gotteskrieger an einem Kontrollpunkt im Süden von Aleppo fest.

"Er wollte mir einen Schleier geben. Trag den Schleier, dann kannst du weitergehen, hat er gesagt", erzählt sie. Shehwaro weigert sich. Der Krieger nimmt sie mit, sperrt sie ein. Währenddessen verbreiten Freunde von ihr die Nachricht von ihrer Verhaftung im Netz. "Er wollte mir zeigen, dass er hier die Macht hat", sagt Shehwaro. "Aber ich habe ihm gezeigt, dass es nicht stimmt. Nach zwei Stunden kam er zurück und hat sich entschuldigt. Es sei ein Fehler gewesen, mich festzunehmen. Und natürlich sei es meine Entscheidung, was ich tragen will." Dennoch, es wird zu gefährlich für sie, ein weiteres Mal. Seit der Festnahme kennen alle in der Gegend Shehwaro. Und dem Terror des rasch erstarkenden IS sind bereits einige ihrer Freunde zum Opfer gefallen, drei von ihnen haben die Terroristen ermordet.

Shehwaro flieht abermals, diesmal in die Türkei. Dort lebt sie inzwischen seit sieben Monaten, in Gaziantep. Und erzählt ihre Geschichte wieder und wieder. Arme Marcell. Aber nein! Gerade diese Reaktion will sie nicht hören: "Ich will nicht die unterdrückte Christin sein, die Frau, die keinen Schleier trägt und deswegen von Islamisten verfolgt wird", sagt sie. Sie will nicht herhalten für die Geschichte von den grausamen Islamisten, die Syrien überrennen - und den ebenso grausamen Machthaber Assad aus den Nachrichten drängen. Deswegen auch die "Same Shit"-Kampagne.

"Ich kenne einige Leute in Syrien, die glauben nicht mal an Gott, aber sie sehen sich trotzdem in ihrer muslimischen Kultur angegriffen, weil Moslems im Westen mit Terroristen gleichgesetzt werden", sagt sie. Das sei gefährlich, weil die eigentlichen, ursprünglichen Ziele der Revolutionäre - nämlich eine bessere Zukunft für ihr Land - in diesem Konflikt allmählich außer Sichtweite geraten.

Doch umgekehrt möchte sie genau wegen dieser Ziele selbst keinen Schleier tragen - obwohl sie zu Beginn der Proteste durchaus manchmal einen umgewickelt hatte. "Natürlich kann das helfen, unerkannt und ungestört zu bleiben. Aber selbst wenn wir, die wir anders sind, ihn am Anfang freiwillig tragen, könnte irgendwann Gewohnheit daraus werden und dann eine Regel." Eine Regel, die sie in ihrer Freiheit einschränkt. Und genau mit dem Kampf gegen solche Regeln hat das Ganze ja angefangen, damals, 2011, in der "shiny period".

Wenn sie wieder nach Syrien geht, wird sie auf jeden Fall wieder unverschleiert sein, sagt sie. Wann das ist? Sie weiß es nicht. Aber lange hält sie es im Ausland nicht aus, wie viele junge Revolutionäre der ersten Stunde. "Wir haben Schuldgefühle und fühlen uns verantwortlich für das Land", sagt sie. Schließlich hätten sie den Umsturz ausgelöst. Deswegen kehren viele immer wieder zurück, auch wenn es gefährlich ist. Denn was man begonnen hat, so sagt sie es streng, das muss man auch beenden.

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