Trend Skitourengehen:Hügel der Massen

Wildspitze

Oben auf der Wildspitze ist alles vergessen. Auch die anderen Menschen stören fast nicht mehr.

(Foto: TVB Pitztal)

Noch vor Kurzem war Skitourengehen das Metier einiger weniger Bergfreaks - mittlerweile stapfen ganze Kolonnen im Gänsemarsch durch die weißen Flächen. Der Wintertourismus hat einen neuen Trend gesetzt und erzählt Marketingmärchen von Natur, Abenteuer und Einsamkeit.

Von Dominik Prantl

Es sind keine 100 Meter mehr bis zur Erlösung, doch der Weg zieht sich. Knapp 20 Meter schaffen die Gipfelstürmer in zehn Minuten, das Gehen gleicht mehr einem Torkeln, Pause, durchschnaufen, wieder 20 Meter. Der behelmte Herr in der Schlange verzieht das Gesicht, die Kinder nörgeln, die Mutter mault, wieder 20 Meter. Am frühen Morgen wollen alle gleichzeitig hinauf.

Michael Walser, der Bergführer, sagt: "Wennst oben bist, ist alles vergessen." Zehn Meter, das Drehkreuz, dann endlich sitzt man in der Bergbahn im hinteren Pitztal, die nicht Bergbahn heißt, sondern Gletscherexpress. Es geht aufwärts durch einen dunklen Schacht, draußen scheint die Sonne seit einigen Stunden.

1861 besteigt Anton von Ruthner die Wildspitze

Es muss ein ähnlich grandioser Tag gewesen sein, damals im Sommer 1861. Jedenfalls geht das aus einem Aufsatz von Anton von Ruthner über eine der ersten Wildspitz-Besteigungen hervor. Er hat seine "Bergfahrt" damals in den Mittheilungen der Geographischen Gesellschaft beschrieben, auf 28 Seiten, und man darf annehmen, dass er gerne mehr Platz für seinen Bericht bekommen hätte.

Neben einer großen Liebe zum Detail lässt Anton von Ruthner aber auch jede Menge Respekt vor dem Berg erkennen: Er habe keinen Augenblick lang die Schwierigkeit des Unternehmens Wildspitze verkannt. "Mit dem Vorsatze, sie zu ersteigen, hatte ich daher recht eigentlich vor, den Stier bei den Hörner zu packen." Es war nicht nur eine Gipfeltour, sondern eine Expedition. Von Ruthner war dann auch überrascht, nicht das einzige Lebewesen auf der Wildspitze zu sein. Am Gipfel sah er: einen Schmetterling.

Natürlich konnte der gute Herr von Ruthner nicht ahnen, was die Facebook-Generation 150 Jahre später aus seiner 28-Seiten-Unternehmung gemacht hat. Sie ist zum Dreizeiler geschrumpft, einem Gefällt-mir-Generator.

Hügel der Massen

Dem Nichteingeweihten verlangt die Wildspitze freilich noch gewaltig Respekt ab; offiziell misst sie 3770 Meter. Inzwischen aber ist die Expedition - je nach Kondition - nur mehr eine lockere Tages- oder Halbtagestour, und zwar ausgerechnet in der garstigen Jahreszeit, in der früher weder Schmetterling noch Forscher Lust auf Gipfel verspürten.

Nach dem Gletscherexpress geht es per Mittelbergbahn auf fast 3300 Meter und dann über das Mittelbergjoch hinab auf den Gletscher jenseits des Skigebiets. Von hier misst die Wildspitze nicht mehr 3770 Meter, sondern nur noch 700. So viele Höhenmeter sind, mit aufgezogenen Fellen, aus eigener Kraft zurückzulegen. Nordtirols höchster Berg, über den von Ruthner schrieb, er sei schwerer zu besteigen als Montblanc und Großglockner, ist heute ein Hügel der Massen.

Informationen

Anreise: Über die Inntalautobahn oder den Fernpass nach Imst und von dort bis zum Ende des Pitztals nach Mandarfen, von München etwa drei Stunden.

Die Wildspitze: Fast jeder Tourengeher nimmt für eine Wildspitz-Besteigung die Bahn. Die Tourengeherkarte bis zur Bergstation der Mittelbergbahn kostet 30 Euro, der Tagesskipass zur Hauptsaison 46 Euro. www.pitztaler-gletscher.at, Tel.: 0043/5 41 38 62 88. Bei ausreichender Schneelage ist die Abfahrt über den - in puncto Lawinen nicht ganz ungefährlichen - Taschachgletscher bis ins Tal möglich.

Bergführer: Anfängern oder Tourengehern, die andere Gipfel als die Wildspitze besteigen möchten, wird in der Ski & Bergschule Club Alpin Pitztal geholfen. www.skischule-pitztal.at, Tel.: 0043/5 41 38 50 00.

Eisbrüche säumen in schimmerndem Blau den Weg

Nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht: Direkt auf den Gipfel führt keine Bahn, ein Teil muss weiterhin auf Tourenskiern erarbeitet werden. Auch hat der Berg noch immer seine Tücken, darauf legt Bergführer Walser, einer der "tüchtigsten seines Fachs im gesamten Pitzthale", wie von Ruthner wohl geschrieben hätte, wert. Walser sagt: "Bei der Abfahrt über den Taschachgletscher muss man sich gut über die Lawinensituation informieren. Und die Grundausrüstung für den Gletscher ist immer dabei."

Eisbrüche, haushoch und in gläsernem Blau schimmernd, säumen den Weg. Spalten verstecken sich unter der Schneedecke, bleiben unsichtbar für den Ahnungslosen. Die letzten Meter führen in Skischuhen über ausgesetztes Gelände, das Atmen ist schwerer in der dünnen Luft. Und wem im Tiefschnee Beine und Bretter flattern, hat auch an den relativ flachen Hängen mit Skiern eher nichts verloren.

Kolonnen von Individualisten, immer schön im Gänsemarsch

Und doch ist der Stier gezähmt. Im Frühjahr ziehen Kolonnen von Individualisten über die weißen Flächen, immer schön im Gänsemarsch. Auf den Bildern der PR-Broschüren ist so etwas selten zu sehen. Da werden lieber einzelne Skifahrer im Pulverschnee und auf Graten gezeigt. Selbst an diesem Montagvormittag im Herbst ist ein Dutzend Skitourengänger unterwegs.

Trend Skitourengehen: undefined

Bis vor gar nicht allzu langer Zeit, als von Ruthner nur noch in seinen Aufsätzen lebte, es der Tourismus aber noch nicht nötig hatte, alle Nischen zu besetzen, war das Tourengehen eine Sache für eine Minderheit. Saison hatte der Sport im Spätwinter und Frühjahr, dann, wenn sich die Berge eine dicke weiße Decke zugelegt hatten.

Losmarschiert wurde dafür besonders früh, weil der Schnee an steilen Hängen in der Nachmittagssonne aus den Fugen gerät. Überhaupt erfordert das Skitourengehen eine andere Eigenverantwortung als das Wandern, zumindest in seiner herkömmlichen Form. Man folgt keinen Wegen, sondern dem Geländeverlauf. Jeder kann theoretisch eine ganz eigene Route in die Landschaft legen. Das verlangt Wissen über Geografie und Lawinengefahr, und vor allem zehrt es an der Kraft. Skitourengehen ist ein Sich-Anpassen an die Landschaft.

Mode der Marktschreier in der Wintersportindustrie

Seit einigen Jahren, so heißt es, kommt das Skitourengehen immer mehr in Mode. Man muss sich dabei jedoch fragen, ob es nicht vor allem eine Mode der Marktschreier aus Tourismus- und Wintersportindustrie geworden ist, der halben Welt was von einem Skitourentrend zu erzählen. Es wird dann gerne auch versichert, dass Menschen zurückwollen zu Natur und Abenteuer und Einsamkeit.

Beim Deutschen Alpenverein (DAV), dem man einiges vorwerfen kann, aber eher nicht mangelnde Trendaffinität, wird der Boom differenzierter gesehen. Laut der regelmäßig stattfindenden Mitgliederbefragung ist der Prozentsatz der Mitglieder, die mit Skiern Berge besteigen, keineswegs nach oben geschnellt. Er liegt seit 2004 konstant bei etwa 30 Prozent. Mit der steigenden Mitgliederzahl alleine lässt sich der Trend nicht begründen.

"Die Menschen bewegen sich vor allem auf Modetouren"

Die Wahrnehmung, dass immer mehr Menschen mit Skiern bergauf rennen, liege laut DAV eher daran, dass von den geschätzten 400 000 deutschen Tourengehern viele die immer gleichen Routen aussuchen. Es sei wie so häufig im Bergsport, sagt Thomas Bucher, DAV-Pressesprecher und selbst passionierter Skifahrer abseits der Pisten: "Die Menschen bewegen sich vor allem auf Mode- und Pistentouren."

Dagegen herrscht beispielsweise auf vielen Pitztaler Gipfeln jenseits der leicht erreichbaren Wildspitze immer noch ein Betrieb wie anno 1861. Hinzu kommt eine selten im Alpenverein organisierte und daher nicht erfasste Menge der freien Radikalen, die Liftfahrten nur deshalb mit einem - eher kurzen - Gipfelaufstieg garnieren, um möglichst lange abseits der Pisten durch den Tiefschnee zu stäuben. Liftbetreiber und Sportartikelverkäufer haben diesen abfahrtsorientierten Tourengeher als eigene Wintersportler-Spezies klassifiziert. Sie nennen ihn Freetourer.

Man muss es wohl so sehen: Die meisten Berggeher folgen lieber eingetretenen Spuren, als selbst welche zu setzen.

Vonwegen Rückbesinnung

Abgesehen davon, dass es für die Natur eher ein Vorteil ist, wenn sich nicht alle kreuz und quer durch die Berge schlagen, ist das Skitourengehen in Wirklichkeit gar keine Rückbesinnung. Es zeigt vielmehr, zu welch einem Kraken sich der moderne Alpentourismus entwickelt hat. Er reicht inzwischen weit über die alte Vorstellung vom alpinen Skifahren hinaus und greift auf seiner wilden Suche nach Auslastung und Saisonverlängerung möglichst viele Zielgruppen ab.

Damit verlieren auch die alten Wahrheiten immer schneller an Bedeutung. Tourengeher brechen heute nicht mehr alleine am Frühjahrsmorgen zu entlegenen Hängen auf. Sie sind mindestens ebenso häufig im Hochwinter anzutreffen, und zwar bevorzugt auf speziell ausgewiesenen Strecken. Die Wildspitze lässt sich - vor allem dank Bahnunterstützung - von Oktober bis Mai mit Skiern besteigen. Sie ist ein Ganzjahresberg geworden.

In anderen Regionen, die nicht mit Gletschern und frühem Schneefall gesegnet sind, werden die Geschäftszeiten gestreckt. Berggasthäuser wie die Hörnlehütte (1390 m) bei Bad Kohlgrub sind im Winter oft lange nach Einbruch der Dunkelheit mit Feierabendsportlern aus der Spaßgesellschaft besetzt. Da kann der Wirt noch so ein Grantler sein.

Präparierte Aufstiegsspur und Tourengeher-Abende

Eigentlich müssten die Tourengeher inzwischen auch eher Pistenschlurfer heißen. Im Garmischer Skigebiet wurden im vergangenen Winter 20 000 aufsteigende Tourengeher gezählt; und das alleine tagsüber. Nur zwei Jahre zuvor waren es noch 12 500 gewesen. Weil viele auch nachts am Pistenrand aufsteigen, liegt die Dunkelziffer heute aber wohl eher bei 30 000.

Sogar der anfängliche Ärger seitens der Liftbetreiber ist vielerorts mittlerweile der Erkenntnis gewichen: Wenn wir die Gegenbewegung schon nicht aufhalten können, müssen wir sie als Chance sehen. In Garmisch gibt es auch diesen Winter wieder eine präparierte Aufstiegsspur und Tourengeher-Abende. Am Pitztaler Gletscher werden an guten Tagen knapp 100 Tourengeher-Skipässe zum Stückpreis von 29 Euro verkauft. Ramsau am Dachstein führt heuer einen "Tiefschnee-Pass" ein.

Jetzt wird der Berg passend gemacht

Anstatt sich der Landschaft anzupassen, wird jetzt der Berg passend gemacht. Oberammergau warb schon vor einigen Jahren mit der "ersten beschneiten Skitourenpiste Europas". Im vergangenen Sommer rodeten am Ronachkopf im Salzburger Land 36 freiwillige Helfer 8000 Quadratmeter dichten Jungwald für eine neue Skitourenstrecke. "Um die Skiroute noch attraktiver zu gestalten, stellt die Schmittenhöhebahn AG ein Pistengerät zur Verfügung, womit die Skiroute regelmäßig präpariert wird", heißt es in einer Pressemitteilung.

An der Wildspitze ist noch nichts präpariert, und Bäume zum Roden wachsen in dieser Höhe auch nicht. Dafür hängen neuerdings ein paar Seile auf den letzten Metern, um das Klettern zu erleichtern. Ortler, Zugspitze, Dolomiten. Schon Anton von Ruthner schrieb: "Es geschieht in der Regel, dass die Ersteiger hoher Spitzen zu viel sehen." Daran wird selbst der langarmige Krake namens Alpentourismus in den nächsten 150 Jahren nichts ändern.

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