"Altersglühen" in der ARD:Die wilden Dreizehn

Altersglühen - Speed Dating für Senioren

Speed Dating für Senioren: Michael Gwisdek, Christine Schorn, Jörg Gudzuhn, Autor Jan Georg Schütte (hintere Reihe: v.l.n.r.) Angela Winkler, Victor Choulman, Matthias Habich, Hildegard Schmahl, Ilse Strambowski (mittlere Reihe: v.l.n.r.) Mario Adorf, Senta Berger, Brigitte Janner, Gisela Keiner, Jochen Stern (vordere Reihe: v.l.n.r.).

(Foto: WDR/Georges Pauly)

Senta Berger, Mario Adorf und Michael Gwisdek kommen sich beim Speed-Dating näher. Die ARD wagt mit dem Improvisationsfilm "Altersglühen" ein großartiges und umstürzendes Experiment. Es rückt alles, was wir sonst geboten bekommen, in einen neuen Blickwinkel.

Von Evelyn Roll

Man sieht nur, was man weiß. Der Satz ist von Goethe, stimmt aber immer noch. Wissen verändert Sehen, weswegen Sie heute an dieser Stelle zwei Fernsehkritiken in einer zu lesen bekommen: Den schnellen, gelangweilten, unwissenden Verriss der schnell gelangweilten, unwissend an ihre Tatort- und Traumschiff-Erfahrungen gefesselten Zuschauerin. Und eine dringende Einschalt-, am besten sogar zweimal Anschau-Empfehlung für alle, die sich von Jan Georg Schüttes Altersglühen zum ganz neu Sehen und Schauspielkunstbewundern befreien lassen wollen. Bitte sehr.

Ist doch mal was anderes: Dreizehn Top-Schauspieler jenseits der siebzig spielen dreizehn Menschen jenseits der siebzig beim Speed-Dating. Sie sitzen - jeweils eine Frau und ein Mann - an sechs Tischen in den großbürgerlichen Salons einer weißen Hamburger Traumvilla vor neunzehn Kameras und sollen sich, also die Filmfiguren, die sie spielen, schnell kennenlernen.

Sie tun das ohne Drehbuch, haben sich mit ihrem Regisseur Jan Georg Schütte, der den Veranstalter des Speed-Dating spielt, nur grobe Figurenprofile ausgedacht, sie improvisieren also. Nach sieben Minuten klingelt ein Glöckchen, die Damen stehen auf und gehen zum nächsten Herrn . . .

Ist doch mal was anderes, sagte die Großmutter, wenn eines ihrer Enkel wieder mal mit orange gefärben oder seltsam asymmetrisch zugeschnittenen Haaren vom Friseur kam. Ihr Gesicht dazu sagte, das ist kein Kompliment.

Altersglühen - Speed Dating für Senioren

Wer bin ich? Maria (Senta Berger) und Volker (Michael Gwisdek) lernen sich effizient kennen.

(Foto: Georges Pauly/WDR)

Wer sich Altersglühen mit den handelsüblichen Erwartungen unserer Omas an deutsche Fernsehdrehbücher und an die Schauspielkunst unserer Besten anschaut, wird leiden, wird es langweilig finden, spannungslos und peinlich.

Nichts für den Traumschiff-Tatort-Blick

Keine Dramaturgie, kein Plot, kein Witz, keine Entwicklung. Es gibt eben gute Gründe dafür, dass man Filme normalerweise mit Drehbuch dreht. Vielleicht können unsere besten Schauspieler einfach nicht frei genug improvisieren, sind überfordert damit, sich Figurenprofile auszudenken, die von ihnen selbst absehen.

Wenn Mario Adorf, Senta Berger, Angela Winkler oder Matthias Habich sich richtig gute Dialoge ausdenken könnten, wären sie ja vielleicht Drehbuchautoren geworden und nicht Schauspieler. Und: Alte Gesichter in Großaufnahme sind nicht schön, nicht für unsere Sehgewohnheiten, nicht sofort, nicht beim ersten Sehen, nicht mit dem Traumschiff-Tatort-Blick.

Andererseits bleiben Widerhaken. Der stärkste heißt: Michael Gwisdek. Der kann das, nur mit einem Figurenprofil ausgestattet drauflos agieren. Was für eine Spiel-lust. Was für eine Improvisationsfreude. Was für eine Überraschung. Wie hat er das gemacht? Gwisdek hat sich selbst zu Hause gelassen und ist ganz der prollige und wahnsinnig komische Schrebergartenbewohner mit den ungepflegten Fingernägeln, der sich hinter seinem Freund versteckt, die Baseballkappe nicht abnimmt und eine Frau sucht zum Gemüsekochen und für schlechtere Zeiten "hinten raus".

Hochachtung, Chapeau, und: Danke schön!

Altersglühen - Speed Dating für Senioren

Hilde Matysek (Ilse Strambowski), Mutter des homosexuellen Veranstalters (gespielt von Autor und Regisseur Jan Georg Schütte, links), wollte eigentlich nur mal sehen, was ihr Sohn beruflich so macht.

(Foto: WDR/Georges Pauly)

Ganz offensichtlich haben die Stanislawski- und Brecht-geschulten Ost-Schauspieler es drauf mit dem Improvisieren. Ilse Strambowski spielt die Mutter des Veranstalters so, als wäre sie nie etwas anderes gewesen. Christine Schorn sprüht vor Spielvergnügen wie ein junges Mädchen.

Die mach-dies-sag-das-gewöhnten West-Schauspieler haben sich Figuren ausgedacht, die zwar auch ganz anderes sind als ihre Schauspieler und die trotzdem diese Schauspieler mitbringen. Wenn man das verstanden hat, entwickelt der Film einen sehr starken voyeuristischen Sog.

Jan Georg Schütte arbeitet immer so. Aus seinem schönen Improvisationsfilm Die Glücklichen wurde ein festes Ensemble, das sich "Die Glücklichen" nennt, seit 2005 zusammen arbeitet und unter anderem Leg ihn um gemacht hat (auch großartig!).

Mit der Hörspielfassung der Versuchsanordnung zum Altersglühen hat er den Hörspielpreis der ARD gewonnen. Hören lässt Räume für Vorstellungen. Und alte Stimmen sind auch in Nahaufnahme schön.

Wenn man mit diesem Verstehen und mit der Akzeptanz des Konzepts den Film noch einmal sieht, geschieht etwas ganz Bemerkenswertes: Wie von verdorbenen Sehgewohnheiten befreit, sieht man plötzlich, wie mutig, bezaubernd und berührend es ist, dass dreizehn etablierte Stars mit der Verletzlichkeit ihrer Figuren auch die eigene Verletzlichkeit ausstellen.

Die Kraft, Sehen zu verändern

Und dann geschieht noch etwas Erstaunliches. Die alten Gesichter der alten Bekannten in Großaufnahme werden auf einmal schön.

Dieser Film hat also die Kraft, Sehen zu verändern, Schauspielkunst neu auszustellen, und alles, was wir sonst geboten bekommen, in einen neuen Blickwinkel zu rücken. Fast unglaublich, dass öffentlich-rechtliche Sender so ein umstürzendes Werkstattexperiment möglich machen und zur besten Sendezeit zeigen.

Es kommt sogar noch besser: Schütte hat aus dem Material eine kleine Serie geschnitten, sechs 25-Minüter für die dritten Programme und zum Süchtigwerden. Zur Randsendezeit, ja, natürlich, aber die ARD hat ja eine gut sortierte Mediathek für Nach- und Zweitseher. Hochachtung, Chapeau, und: Danke schön!

Altersglühen, ARD, 20.15 Uhr; die Serie läuft von 13. November an bei WDR und NDR.

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