Moscheen in Deutschland:Was hinter 78 antimuslimischen Vorfällen steckt

Die Regierung, die Medien, die muslimischen Verbände: Wenn es um das Thema Islamfeindlichkeit geht, wird immer wieder eine Zahl zitiert. 78. Doch was ist in diesen Fällen eigentlich passiert? SZ.de hat nachgefragt.

Von Hakan Tanriverdi

Achtundsiebzig. Diese Zahl bestimmt mit, wie in Deutschland über den Islam gesprochen wird. Sie wird in Zeitungen zitiert und dient dort als Symptom für Islamfeindlichkeit. Aus diesem Grund sind muslimische Gemeinden auch beunruhigt über jene Zahl, die gleichzeitig die Antwort der Bundesregierung auf die Frage ist: Wie oft kommt es in und um Moscheen zu antimuslimischen Vorfällen? So lautete eine Kleine Anfrage der Linkspartei. Offizielles Ergebnis: 78 mal im Zeitraum Januar 2012 bis März 2014 (hier das PDF).

"Vielfalt und Vorurteile: Wie tolerant ist Deutschland?" Diese Frage hat unsere Leser in der siebten Abstimmungsrunde des Projekts Die Recherche am meisten interessiert. Dieser Beitrag ist Teil eines Dossiers, das sie beantworten soll. Alles zur Toleranz-Recherche finden Sie hier, alles zum Projekt hier.

Doch eine einzelne Zahl ist so gut wie wertlos, wenn unklar bleibt, was sich hinter ihr verbirgt. Was genau ist passiert?

Das Papier zur Linken-Anfrage liefert nur wenige Details: In 78 Spalten werden dort zwar einige Zusatzinformationen genannt, zum Beispiel Ort, Datum und welcher Paragraf des Strafgesetzbuches angewendet wurde. Das Wort "islamfeindlich" findet sich in diesen Spalten allerdings nicht. Genauere Angaben kann das Bundeskriminalamt (BKA) nicht liefern - schlicht, weil es diese nicht hat.

Die Landeskriminalämter leiten lediglich Rohangaben an das BKA weiter. Die Kategorisierung "islamfeindlich" wird in Kriminalstatistiken zu politisch motivierten Taten nicht vorgenommen. Diese werden unter dem Oberthema "Hasskriminalität" und den Unterthemen "Religion" und "Fremdenfeindlich" kategorisiert. Straftaten mit antisemitischem Hintergrund werden separat aufgelistet.

Um herauszufinden, was hinter den 78 aufgeführten Taten tatsächlich steckt, hat Süddeutsche.de in allen Fällen mit den zuständigen Polizeibehörden und Staatanwaltschaften telefoniert. Herausgekommen ist ein Überblick, der mehr erzählt als eine bloße Zahl. Lediglich in neun Fällen gab es entweder keine Rückmeldung oder aber das von der Polizei weitergeleitete Aktenzeichen war falsch, so dass die Staatsanwaltschaft keine Aussagen machen konnte.

Die wichtigsten Erkenntnisse im Überblick

  • Die Liste ist nicht vollständig: Einerseits fehlen vermutlich Fälle (siehe unten), andererseits werden solche genannt, bei denen fraglich erscheint, ob der Hintergrund tatsächlich Islamfeindlichkeit ist. (Beispiel: Knallkörper im Briefkasten, Graffiti "1. Mai nazifrei").
  • Im Großteil der 78 Fälle handelt es sich um Vandalismus, also um Hakenkreuz-Schmiereien an oder im Umfeld von Moscheen.
  • In neun Prozent der Fälle haben die Täter tote Tiere auf das Gelände der Moschee geworfen, in der Regel Schweineköpfe. Das Schwein gilt im Islam als unreines Tier, das gemieden wird.
  • Es gab einen Brandanschlag und ein Koran wurde verbrannt. In zwei Fällen wurde in Briefen angedroht, dass Moscheen brennen sollten wie in der Nazi-Zeit die Synagogen. Fälle von brennenden Moscheen, wie aktuell die Mevlana-Moschee in Berlin, sind in der Statistik aber nicht enthalten.
  • Die überwältigende Mehrheit der Fälle wurde durch unbekannte Täter verübt.
  • Die direkte Konsequenz daraus: Der Großteil der Verfahren wurde von den Staatsanwaltschaften eingestellt. Die Taten bleiben also ungestraft.

Christian Pfeiffer leitet das Kriminologische Institut in Niedersachsen. Auf einer Tagung zum Thema Rechtsextremismus hat er kürzlich mit Polizisten über dieses Thema gesprochen: "Wenn einer Frau das Kopftuch heruntergerissen wird, kann man klassisch ermitteln. Aber die seltensten Fälle von Islamfeindlichkeit sind Übergriffe von Angesicht zu Angesicht", sagt er. Das erschwere die Aufklärung möglicher antimuslimisch motivierter Taten.

Die Recherche ergibt auch: Die finale Liste des BKA hätte wohl mehr als 78 Fälle enthalten müssen. Die Hakenkreuze an einer Moschee in Werne beispielsweise tauchen nicht auf, ebensowenig ein Dutzend weiterer Fälle, die Süddeutsche.de übermittelt wurden. Auf Nachfrage betont das BKA, dass es nur jene Informationen habe, die von Landeskriminalämtern weitergeleitet worden seien. Bei einem der LKAs nachgefragt, betont dieses, alle Fälle an das BKA geschickt zu haben.

Anti-muslimische Straftaten werden nicht separat aufgeführt

Dass die Fälle nicht auftauchten, sagt der Islamwissenschaftler und Journalist Thorsten Schneiders, offenbare die Schwäche der Statistik: "Die Zahl ist vollkommen willkürlich. Sie eignet sich dazu, eine Tendenz zu erkennen, mehr aber auch nicht." Schneiders kritisiert, dass antimuslimische Straftaten nicht separat aufgeführt werden. Dadurch bleibe die Einschätzung, welche Taten als antimuslimisch motiviert an das BKA gemeldet werden, einzelnen Polizisten überlassen.

Als Beispiel nennt Schneiders aktuelle Moscheebrände in Bielefeld: Ein Einbrecher zündete in zwei Moscheen Korane an. Nachdem er gefasst wurde, gab er zu Protokoll, die Korane aus Wut angezündet zu haben, da er kein Bargeld in den Moscheen finden konnte. Die Polizei ordnete den Fall daraufhin als nicht politisch motiviert ein. Der Fall sei vermutlich nicht in der Liste des BKA gelandet: "Das Anzünden eines Korans weckt allerdings per se den Verdacht der Islamfeindlichkeit", sagt Schneiders.

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Der Landtag in Nordrhein-Westfalen hat in einem Antrag beschlossen, wonach antimuslimische Straftaten in der Statistik für politisch motivierte Kriminalität künftig gesondert aufzuführen sind. "Wenn eine bundesweit einheitliche Regelung nicht möglich sein sollte, fordern wir eine Einführung zumindest in NRW", sagt dazu Verena Schäffer von den Grünen. "Denn in NRW leben bundesweit die meisten Musliminnen und Muslime."

Eine gesonderte Erfassung könne die Sensibilität für das Thema erhöhen.

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