20 Jahre Doku-Sendung "37°":Menschenfernsehen voller Helden

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Zum Jubiläum von "37°" lernen die Zuschauer Carla und Paul kennen. (Foto: ZDF)

Seit 20 Jahren erzählt "37°" Geschichten aus dem Leben seiner Protagonisten. Spektakulär investigativ sind diese zwar selten. So konventionell die ZDF-Dokureihe häufig ist, so erfolgreich ist sie aber auch. Das Format kämpft mit ganz anderen Problemen.

Von Hans Hoff

"Man ist ja auch nicht mehr in dem Alter, wo man jetzt mit der Mama kuschelt." Selina sagt das an diesem Dienstag gleich zu Beginn der aktuellen 37°-Ausgabe. Selina ist 17 Jahre alt und damit jünger als die Reihe, in der sie gemeinsam mit ihrem zwei Jahre älteren Freund Max von ihren blühenden Gefühlen berichtet. Am 1. November 1994 ist 37° erstmals auf Sendung gegangen, und zum 20. Geburtstag hat sich die Doku-Reihe mit Menschen befasst, die ähnlich alt sind. Wohl in der Hoffnung, dass deren juvenile Befindlichkeit ein bisschen was aussagen möge über den Zustand von 37°.

Die Erfolgsbilanz von 37° liest sich beachtlich. "Ein Vietnamsoldat kann nicht vergessen" hieß die erste Ausgabe, heute steht "Jung. verliebt" auf dem Programm. Dazwischen liegen fast 830 Dokumentationen, die auf aktuell bis zu 36 Sendeplätzen pro Jahr zuverlässig mehr als zwei Millionen Zuschauer erreichen, was einem in der Regel zweistelligen Marktanteil entspricht.

Kleiner Held im ZDF-Portfolio

So etwas ist als Erfolg zu werten, und genau deshalb könnte die Geschichte von 37° auch ein Fall für 37° sein. Das Format ist ein kleiner Held im ZDF-Portfolio, eine sichere Quotenbank, die der Senderbilanz zuverlässig zuarbeitet und überschaubare Kosten verursacht. Rund 65 000 Euro kostet so ein 30-Minüter. Zehn Dreh- und zehn Schnitttage liegen der Kalkulation zugrunde. Wenn es das Thema fordert, dürfen auch 45 Minuten abgeliefert werden. Dafür zahlt der Sender dann 84 000 Euro.

Es gibt Menschen, die Fernsehen machen und sagen, 30 Minuten sei zu wenig. Da könne man kaum in die Tiefe gehen, da halte man am Ende nur noch drauf und liefere ab. Wenn die Kamera komme, müsse etwas geschehen. Geschehe nichts, komme man als Dokumentarist in Nöte. Sie reden vom 37°-Muster, das einfach die Geschichte von drei Personen nebeneinanderstelle, so wie es im Dokubereich mittlerweile leider häufig gang und gäbe sei.

Es gibt aber genauso gut Menschen, meist jüngere, die Dokumentaristen geworden sind mit dem Ziel, Filme für 37° zu produzieren. Die einen sagen, es sei stets vorhersehbar, was in einer Folge geboten werde, die anderen reden von den Überraschungen, die das Format bereithalte.

Es geht hier wie dort um Glaubenssätze, die auch damit zu tun haben, wie Doku-Filmemacher ihre Rolle verstehen - und ob sie eine Plattform dafür finden, also einen Sendeplatz.

Das Vertrauen in die Marke

Naturgemäß für den Wert von 30-Minütern tritt Peter Arens ein. Der ZDF-Kulturchef verantwortet die Reihe und kommt schnell ins Schwärmen, wenn er von 37° spricht. Hat man die ersten fünf Minuten mit ihm geredet, dann steht auf dem Bilanzzettel des Gesprächs schon fünfmal der Begriff Held. Arens redet gern von Helden. Für ihn sind alle, die bei 37° ihr Innerstes der Kamera offenbaren, Helden. Die Redaktion rede nicht von Protagonisten, sagt er. Es geht um Helden.

"Wir lassen die Menschen selbst über ihre Situation befinden", sagt er. Im Idealfall kommt solch ein Beitrag ganz ohne Off-Erklärung aus. Dass die Menschen so freimütig von sich erzählen, auch von ihren Niederlagen, von ihren Beschwerden, mag an der Kraft der Marke liegen. "Der Titel 37° ist ein Türöffner geworden, die Leute haben Vertrauen in uns", sagt Arens und grenzt sein Format sehr deutlich ab: "Wir betreiben keinen Verbraucherschutz, geben keine Ratschläge, diskutieren nicht mit Experten über Hartz IV, Sorgerecht oder Schulstress, sondern zeigen hoffentlich so intensiv wie möglich, wie unsere Helden damit umgehen."

Die Kritik, das allzu Harte, das spektakulär Investigative auszusparen, trifft Arens nicht. "Wir machen kein Themenfernsehen, wir machen Menschenfernsehen." Konfrontiert man ihn mit dem Vorwurf, der 37°-Vorspann sei ein bisschen zu süßlich geraten und ohne Problem auch als Vorlage für eine "Merci"-Reklame brauchbar, kontert der ZDF-Kulturchef mit Erfahrungen aus der Zuschauerpost: "Manche sagen, er sei zu düster."

Schaut man den Vorspann dann noch einmal an und sieht, wie sich da anfangs ein Schwangerenbauch ins Bild schiebt, dann ein Säugling und ein Kindergartenkind und am Ende des filmischen Lebenslaufs die netten Senioren, dann sucht man vergeblich nach dem Düsteren.

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(Foto: ZDF)

In 20 Jahren und fast 830 Filmen näherten sich die 37°-Autoren unterschiedlichen Protagonisten: hier einer Totenwäscherin, gesendet am 17. Oktober 2000.

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(Foto: ZDF)

Hier ging es um "Shopping-Parties in Deutschland", zu sehen am 12. Dezember 2000.

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(Foto: ZDF)

Der Protagonist einer Sendung über Hirnschäden und deren Folgen.

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(Foto: ZDF)

Am 25. Juli 2000 lernten die Zuschauer von 37° die Prostituierte Felicitas kennen.

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(Foto: ZDF)

Die Folge "Die Kinder von Lassing" von 1999 berichtete vom Schicksal einer Familie, deren Vater bei einem Grubenunfall verunglückt ist.

Allerdings sollte man sich davor hüten, die gefühlige Verpackung für den Inhalt zu nehmen. 37° kann durchaus mit großen Momenten aufwarten, auch wenn dies nicht mehr ganz so häufig der Fall ist wie in den jungen Jahren des Formats. Auf jeden Fall liefert die Reihe ein schönes Beispiel dafür, zu welchem Erfolg es führen kann, wenn man sorgsam mit Produkt und Platzierung umgeht. Die ARD könnte sich auf ihrem Wackelkurs mit späten und nicht sehr zuverlässigen Sendeplätzen für Dokumentationen da durchaus eine Scheibe abschneiden.

Konzentrierte Zuschauer dank "Heute-Journal"

Zu tun hat der Erfolg auf jeden Fall aber auch mit dem vorher laufenden Programm. "Nach dem Heute -J ournal haben wir konzentrierte, engagierte Zuschauer, die gezielt gucken. Um 20.15 Uhr hätten wir nicht nur einen niedrigeren Marktanteil, sondern auch insgesamt weniger Zuschauer, das haben wir bei diversen Anlässen schon gespürt", sagt Arens.

Trotz der hohen Wertschätzung, die sein Format im Hause genießt, weiß Arens natürlich auch um die Friktionen, mit denen es die Akteure im Dokubereich zu tun haben. "Vielleicht haben beide Seiten hier in den letzten Jahren Fehler gemacht, sowohl die Dokumentaristen selbst, die oft selbstreferenziell sind und den Willen zum Zuschauerbezug vermissen lassen, als auch die Sender, die die Relevanz dieses Genres aus den Augen verloren haben. Vielleicht müssen beide wieder genauer hinschauen", sagt er.

Beständigkeit im Fernsehgeschäft

Und dann träumt er ein bisschen von berühmten Autoren. Von Doris Dörrie, die er gern einen Film über Männer drehen lassen würde, von Georg Stefan Troller, seinem persönlichen Helden. Auf keinen Fall aber will Arens sein 37° der Verwechselbarkeit preisgeben. Er weiß eben um die Bedeutung von Beständigkeit im Fernsehgeschäft. "Wir wollen kreativ sein innerhalb des Formats. Wir wollen das Format nicht jedes Mal neu erfinden müssen", sagt er.

Und dann ist schon wieder Selina dran, die 17-Jährige aus "Jung.verliebt". "Wir können uns auch gar nicht vorstellen, dass wir uns irgendwann mal trennen", sagt sie. Es geht um ihren Max, aber auf besondere Weise könnte dieser Satz auch für die Zukunft von 37° stehen. Das ZDF und 37°. Das ist und bleibt. Oder wie die Sängerin der Band Mia im Vorspann säuselt: "Es ist, was es ist, sagt die Liebe."

Jung.verliebt , ZDF, 22.15 Uhr und Die lange 37°-Nacht , 1.05 Uhr.

© SZ vom 25.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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