WM-Verlierer Viswanathan Anand:Schachblind im falschen Moment

WM-Verlierer Viswanathan Anand: Verlierer des WM-Duells: Viswanathan Anand.

Verlierer des WM-Duells: Viswanathan Anand.

(Foto: Thomas Samson/AFP)

Ein falscher Zug in Zeitnot, ein übersehenes Geschenk, ein riskantes Turm-Manöver: Wegen dreier Fehlgriffe verliert Viswanathan Anand gegen Magnus Carlsen. Zurücktreten will er nicht, doch es war wohl sein letzter WM-Kampf.

Von Johannes Aumüller

Natürlich könnte sich Viswanathan Anand jetzt in die Historie flüchten. Bis in die Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, als es Michail Botwinnik zweimal gelang, den WM-Titel im Schach zurückzuerobern. Oder gar bis ins Jahr 1886, als sich Wilhelm Steinitz mit einem Sieg gegen Johannes Zukertort zum ersten offiziellen Weltmeister in diesem Sport kürte. Aber Anand ist erfahren genug, um das nicht zu tun.

Am Sonntagabend hat der Inder den WM-Kampf gegen Magnus Carlsen verloren. Wahrscheinlich war es seine letzte Chance, den Titel zu erobern. In wenigen Wochen feiert er seinen 45. Geburtstag - auch für den Sitzsport Schach, bei dem es auf Weltklasseniveau mehr körperlicher Fitness bedarf, als es gemeinhin den Anschein hat, ein hohes Alter. Ein Alter, in dem es in der langen Schach-Geschichte erst zwei Akteure geschafft haben, einen WM-Kampf zu gewinnen: Botwinnik in den 1960ern. Und Steinitz 1886. Doch das waren andere Zeiten.

Zurücktreten will Viswanathan Anand zwar nicht, "ich hoffe, so lange spielen zu können, wie es mir Spaß macht", sagte er. Aber die ganz große Karriere des Inders mit dem Spitznamen "Tiger von Madras" scheint nun vorbei zu sein. Eine Karriere, die ihn immerhin für sechs Jahre (2007 bis 2013) als Weltmeister auswies. Und eine Karriere, an deren vorläufigem Ende noch einmal ein starker Auftritt stand: Anand bot Carlsen beim WM-Kampf in Sotschi stärker Paroli als von vielen erwartet, er ging risikoreich zu Werke, eine Partie gewann er. Doch gleich dreimal leistete er sich Fehlgriffe, die auf Weltklasseniveau in dieser Häufung erstaunlich sind - und die Carlsen zum Sieg ausnutzte.

Da war etwa Anands Niederlage in der zweiten Partie. Carlsen bot eines seiner berüchtigten Spiele, in denen er es schafft, sich mit vielen kleinen unscheinbaren Zügen einen Vorteil zu erarbeiten - und Anand war deswegen in Zeitnot geraten. Er übersah einen gefährlichen Damenzug von Carlsen, und statt seine Abwehr zu stärken, schob er einfach seinen Bauern nach vorne, kurz darauf musste er aufgeben.

Da war dieses kuriose Mysterium in der sechsten Partie. Carlsen hatte sich einen unglaublichen Schnitzer geleistet. "Das ist der schlechteste Zug seiner Karriere", kommentierte ein enger Vertrauter des jungen Norwegers. Mit einem Springerzug hätte sich Anand einen materiellen Vorteil verschaffen und die Partie danach relativ simpel gewinnen können. Er wäre dadurch sogar in der Gesamtwertung in Führung gegangen. Doch er fand den Zug nicht, sondern verfolgte stur und ohne lange Bedenkzeit seinen eigenen Plan weiter. "Das hätte mich die WM kosten können", gab Carlsen hinterher zu.

Fehlerlose Schachmaschine Carlsen

So aber konnte er aus diesem Moment gar noch Kraft und einen psychologischen Auftrieb schöpfen: Der Mythos von der fehlerlosen Schachmaschine Carlsen schien so groß zu sein, dass sein Kontrahent gar nicht mehr damit rechnete, dass die Schachmaschine Carlsen überhaupt Fehler begehen kann. "Wenn du ein Geschenk nicht erwartest, siehst du es manchmal auch nicht", sagte Anand - Schachblindheit nennen es die Akteure, wenn sie einen gewinnbringenden Zug in einer angespannten Situation übersehen.

Und dann gab es schließlich diesen Moment in der elften Partie am Sonntag. Anand hatte sich angesichts seines Rückstandes in der Gesamtwertung entschieden, auch mit den schwarzen Steinen auf Risiko zu spielen. Lange zahlte das sich aus, doch dann ging er einmal zu optimistisch zu Werke: Er opferte seinen Turm gegen einen Läufer - doch es brachte nichts ein, Carlsen konnte die Situation souverän ausspielen. "Magnus spielte ein besseres Match. Es ist sein Moment", sagte Anand.

In der Tat ist es Carlsens Moment - und die Schachwelt fragt sich, wie lange der noch andauern kann. Schon seit ein paar Jahren führt er die Weltrangliste an, niemand hat in der Geschichte eine solche Wertungszahl erreicht, seit 2013 hält er den WM-Titel. Dass er den noch eine ganze Weile verteidigen möchte, kündigte er in Sotschi gleich selbstbewusst an: "Zwei geschafft, noch fünf vor mir", schrieb der Norweger auf Facebook.

Mit dann sieben WM-Titeln könnte er den nächsten Ewigkeitsrekord im Schach aufstellen: Bisher liegt die Bestmarke bei sechs gewonnen WM-Kämpfen, gehalten durch Emanuel Lasker, Anatolij Karpow und Carlsens langjährigen Mentor Garry Kasparow. Doch bis dahin dauert es noch ein Weilchen. Der nächste WM-Kampf ist fürs Jahr 2016 vorgesehen, der Gegner soll in einem Achter-Turnier ermittelt werden. Gemäß Reglement hätte Viswanathan Anand bei diesem Ausscheidungswettkampf zumindest ein Startrecht.

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