Vor dem Urteil im Yağmur-Prozess:Versagen auf allen Ebenen

Grab von Yagmur

Ein kleines Holzherz steht auf dem Öjendorfer Friedhof an Yağmurs Grab.

(Foto: Daniel Bockwoldt/dpa)

Die dreijährige Yağmur aus Hamburg soll von ihrer Mutter monatelang verprügelt worden sein, bis sie an einem Leberriss starb: Am Dienstag fällt das Urteil im Prozess gegen ihre Eltern. Fraglich ist, ob die Beweise für eine Verurteilung wegen Mordes reichen.

Von Felicitas Kock

Am 18. Dezember jährt sich der gewaltsame Tod der kleinen Yağmur zum ersten Mal. Der Fall des Mädchens bewegt die Stadt Hamburg bis heute, denn Yağmurs Tod zeigt komplettes Versagen auf verschiedenen Ebenen - Ebenen, die sich auf so unglückliche Art und Weise ineinander verwoben hatten, dass das Mädchen nicht mehr gerettet werden konnte.

Die eine Ebene ist die Gewalt, die Yağmurs Mutter Melek Y. ihrer kleinen Tochter angetan haben soll. Und die Untätigkeit des Vaters, Hüseyin Y., der wohl wegschaute und seine Tochter nicht vor den Angriffen schützte. An diesem Dienstag wird im Prozess gegen die Eltern das Urteil fallen, etwas mehr als fünf Monate lang standen die 27-Jährige und ihr 26 Jahre alter Ehemann vor Gericht.

Melek Y. wird vorgeworfen, ihre Tochter über Monate misshandelt zu haben. Für sie fordert die Staatsanwaltschaft lebenslange Haft wegen Mordes. Die Anklage will zudem die besondere Schwere der Schuld feststellen lassen - damit wäre eine vorzeitige Entlassung nach 15 Jahren ausgeschlossen.

Immer wieder kommen im Prozess die grausamen Details des Martyriums zur Sprache, das Yağmur durchlitten hat. Die Befunde der Obduktion werden besprochen: Die Mediziner haben 83 äußere Verletzungen festgestellt, außerdem war nahezu jedes innere Organ massiv beschädigt. Einmal bringt die Gerichtsmedizinerin eine Plastikpuppe mit herausnehmbaren Organen mit in den Gerichtssaal, um zu demonstrieren, was es etwa bedeutet, wenn die im Körper sehr geschützt liegende Bauchspeicheldrüse einen Riss bekommen hat: Nur gezielte Schläge und Tritte in die Körpermitte können so eine Verletzung hervorrufen.

Eine Mutter, die ihr eigenes Kind zu Tode quält? Der psychiatrische Sachverständige erklärt das Verhalten Melek Y.s bei Gericht mit einer "starken Ambivalenz". Die junge Frau sei von Anfang an überfordert gewesen, sie habe Yağmur deshalb zu einer Pflegemutter gegeben. Doch später wollte sie ihr Kind zurück. Sie liebte und hasste ihre Tochter, wollte sie um sich haben, machte sie aber gleichzeitig für alles verantwortlich, was in ihrem Leben falsch lief. Sie umsorgte sie und im nächsten Moment trat sie dem kleinen Mädchen in den Bauch. So sieht es zumindest der Psychiater. Und Yağmur? Konnte sich, wenn sie bei ihren Eltern war, nie sicher fühlen vor dem nächsten Angriff.

"Sag denen nicht, dass ich mein Kind schlage"

Melek Y. setzt nach dem Tod ihrer Tochter alles daran, ihren Mann zu belasten. Er habe Yağmur geschlagen und ihr, der Mutter, verboten, das Kind ins Krankenhaus zu bringen. Er habe Yağmur nach einem Streit getreten und so den Leberriss verursacht, der zum Tod des Mädchens führte. Und er habe auch sie, Melek, geschlagen und vergewaltigt.

Zunächst glauben ihr die Ermittler, doch Zeugenaussagen mehrerer Freunde und Whatsapp-Nachrichten zeichnen ein anderes Bild. "Ich versuche nur, Yagmur zu schützen", schrieb Hüseyin Y. einmal und seine Frau antwortete: "Sag denen nicht, dass ich mein Kind schlage".

Alles erlogen, die Zeugen bestochen, die Whatsapp-Nachrichten von Unterstützern des Ehemanns in ihr Handy getippt, sagt Melek Y. Und so plädiert die Verteidigung auf Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen. Eine "aktive Täterschaft" der 27-Jährigen habe sich in der Beweisaufnahme nicht feststellen lassen. Es könne noch immer nicht ausgeschlossen werden, dass Yağmurs mitangeklagter Vater für die tödlichen Verletzungen des Kindes verantwortlich sei.

Der Verteidiger des Vaters nennt Yağmurs Mutter eine "notorische Lügnerin". Für seinen Mandanten verlangt er höchstens eine Bewährungsstrafe. Der 26-Jährige sei durch den Tod seines Kindes ausreichend bestraft. "Ich hätte für meine Tochter da sein sollen", erklärt Hüseyin Y. nach den Plädoyers unter Tränen, "ich hab mir nicht vorstellen können, dass sie sterben könnte."

Wenn das System versagt

Diese Option scheint auch vielen anderen nicht in den Sinn gekommen zu sein - und so ist man schnell bei der zweiten Ebene des Falls: beim Versagen des Systems. Denn Yağmurs Tod kam nicht aus dem Nichts. Die Pflegemutter, bei der das Kind seit seinen ersten Lebensmonaten immer wieder untergebracht war, hatte dem zuständigen Jugendamt in Hamburg-Eimsbüttel mehrere Verletzungen gemeldet. Im Januar 2013 wurde Yağmur schwerverletzt ins Krankenhaus eingeliefert, die Ärzte erstatteten Anzeige wegen Kindesmisshandlung.

Yağmur wurde daraufhin in ein Kindeschutzhaus gebracht. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen die Eltern. Doch dann schreibt die Pflegemutter an das Jugendamt, dass sie auch für Yağmurs Verletzungen verantwortlich sein könnte. Sie habe das Kind ein Mal geschüttelt.

Die Mitarbeiter des Jugendamts werten das als Entlastung für Melek und Hüseyin Y. Eine klare Fehleinschätzung. Eine Familienrichterin spricht ihnen das zuvor entzogene Sorgerecht wieder zu. Sie weiß nichts von den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, die zu diesem Zeitpunkt noch laufen. Und bei den Ärzten fragt sie nicht nach, wann welche Verletzungen zustande gekommen sind.

Yağmurs Familie zieht im Juli 2013 um, damit ändern sich die Zuständigkeiten: Nicht mehr das Jugendamt Hamburg-Eimsbüttel, sondern das Jugendamt Hamburg-Mitte ist nun verantwortlich für das Mädchen. Spätestens hier wird eine weitere Ebene des Versagens deutlich: Die mangelhafte Kommunikation. Wichtige Informationen gehen unterwegs verloren, eine Mitarbeiterin erkrankt, eine neue übernimmt. Die Fälle werden zu diesem Zeitpunkt nicht mehr so genau dokumentiert - eine "Arbeitshilfe", die der Abteilungsleiter seinen Mitarbeitern zur Entlastung gewährte.

"Die Überlastungssituation der Mitarbeiter ist so extrem, dass aus zeitlichen Gründen viele Dinge nicht weiterverfolgt wurden", sagte die Grünen-Abgeordnete Christiane Blömeke, die im Untersuchungsausschuss der Hamburger Bürgerschaft sitzt, welcher sich mit dem Tod Yağmurs befasst. Dabei hatte Hamburgs Sozialsenator Detlef Scheele bereits nach dem Tod der elfjährigen Chantal, die im Jahr 2012 an einer Überdosis Methadontabletten starb, angekündigt, die Personalsituation der Jugendämter und des zugehörigen Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) überprüfen zu wollen.

Streit im Untersuchungsausschuss

Bis Januar will der Untersuchungsausschuss seinen Abschlussbericht vorstellen, aber schon vor den Beratungen über den Entwurf des Berichts gibt es Streit. Der Abgeordnete der Linken, Mehmet Yildiz, kritisiert, dass man sich bei der Suche nach Fehlern zu sehr auf einzelne Jugendamtsmitarbeiterinnen konzentriert hat. Außerdem soll der Bericht möglicherweise überarbeitet werden, weil die Rolle der Staatsanwaltschaft zu kurz kommt.

Ganz gleich, zu welchem Ergebnis der Bericht kommt - welche Stellen wann aus welchem Grund versagt haben - am Anfang waren es Yagmurs Eltern, die versagten. Und zumindest auf dieser Ebene wird es an diesem Dienstag ein Urteil geben, das die Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht.

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