Franziskus' Reden in Straßburg:Ein Papst geht aufs Ganze

Pope Francis addresses the Council of Europe in Strasbourg

Fraktionen sind für ihn zweitrangig: Papst Franziskus kritisiert, dass Europa alt und müde wirke.

(Foto: Reuters)

Flüchtlinge ertrinken, der Mensch verkommt zur Ware: Papst Franziskus kritisiert Europa - ohne sich dabei in Politgrammatik zu versuchen. Gerade das aber macht seine Botschaft politisch. Man kann, soll und muss sich daran reiben.

Kommentar von Matthias Drobinski

Der Papst hat Europa die Leviten gelesen. Nein, er hat mehr getan: Das Buch Levitikus in der Bibel vereint viele kleine, manchmal auch kleinliche Regeln. Franziskus ist dagegen aufs Ganze gegangen in seinen beiden Reden in Straßburg. Im Vergleich dazu ist das Buch Levitikus harmlos. Alt und müde wirkt der Kontinent, hat er gesagt, der Papst aus Argentinien. Europa läuft Gefahr, seine Wurzeln zu vergessen. Die Europäische Union wird blutleer, wenn sie den Menschen vergisst wenn sie den Egoismus zur Norm macht, die Wegwerf-Kultur, den hemmungslosen Konsum. Es ist etwas faul in Europa, wenn die Bürger einsam und gleichgültig werden. Der Papst aus Argentinien hat das freundlich vorgetragen und auch gesagt, wie viel Gutes Europa bewirkt hat, bewirken kann.

Seine Botschaft aber ist voll prophetischer Kraft. Der Papst ist nicht als Politiker oder Staatsoberhaupt aufgetreten. Er hat sich nicht zu den Steuersparmodellen des EU-Kommissionspräsidenten Juncker geäußert und kein Alternativkonzept zum Frontex-Einsatz im Mittelmeer mitgebracht; er hat sich nicht in Politgrammatik versucht. Franziskus hat als Papst in Wahrheitskategorien geredet: Da ertrinken Flüchtlinge im Meer. Da werden Menschen zur Ware und stören, wenn sie nicht funktionieren. Da wird ein Planet geplündert. Gerade das aber macht seine Botschaft politisch: Wer sich von diesen Wahrheiten anrühren lässt, dem lassen sie keine Ruhe mehr.

Fraktionen sind für Franziskus zweitrangig

Ist das links, ist das konservativ? Er ist unser Mann, können die Linken sagen und des Papstes Kritik an der Globalisierung, dem Konsum, der Flüchtlingspolitik anführen. Er ist unserer, können die Konservativen antworten und des Papstes Unbehagen an der Individualisierung, am Zerfall der Familien, den Abtreibungszahlen anführen - und dass er, wenn es um den Wurzelverlust Europas geht, den frommen Schriftsteller Clemente Rebora zitiert. Franziskus durchbricht die politischen Kategorien Europas, ausgerechnet im Zentrum des politischen Europas. Ihm geht es um den Menschen, dessen Würde und Unantastbarkeit, um dessen Existenz als Gemeinschaftswesen. Fraktionen erscheinen ihm da zweitrangig.

Man kann, soll, muss sich daran reiben. Man kann Franziskus' durchgehend negative Bewertung des Individualismus kritisieren. Man kann dem Kirchenmann Naivität unterstellen: Sollen jetzt die Parlamentarier mit einer kräftigen Erklärung das Flüchtlingselend und die Schattenseiten des Kapitalismus verbieten? Es braucht aber gerade die europäische Politik mit ihren Schrittchen und Rückschritten das Kratzende der Utopie, das haben die Europawahlen im Mai gezeigt. Sie braucht auch das Spannungsverhältnis von aufgeklärter Religion und aufgeklärter Politik - weil sich beide einander verunsichern.

Auch das war eine der Botschaften des Papstes an Europa: Die furchtbaren Nachrichten dieses Jahres sind nicht die ganze Wahrheit. Europa und die Welt müssen nicht so bleiben, wie sie sind. Kann es besseren Trost geben für Europas Politik?

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