Kirgisistan:Insel vor dem Untergang

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Es gibt nur wenig Industrie in Kirgisistan, das Land lebte eigentlich immer vom Handel. Doch das geht nun nicht mehr.

(Foto: Vyacheslav Oseledko/AFP)

In Kirgisistan liegt einer der größten Märkte der Welt. Doch seit Russland mit den Nachbarn des Landes eine Zollunion bildet, laufen die Geschäfte schlechter. So werden die Kirgisen in die Zollunion mit Russland gezwungen.

Von Julian Hans, Bischkek

Stück für Stück zieht die Frau ihren Einkauf aus den Plastiktaschen und stapelt ihn ordentlich in der stählernen Schraubenpresse auf. Pullover, Hemden, Tücher mit Mustern in grellen Farben. Etwa 70 Kilo werden es wohl sein, alles in allem, schätzt sie. Damit sie die überhaupt transportieren kann, wird die Ware jetzt mit großer Kraft zusammenquetscht, mit Folie umwickelt und mit Draht verzurrt. 300 Som zahlt sie für diese Dienstleistung, etwa vier Euro. Sie gehören zu ihrer Kalkulation wie die Fahrkarte für die Zweitagesreise mit dem Zug aus Kostanaj ganz im Norden von Kasachstan bis in den Süden, die Fahrt mit dem Taxi über die Grenze nach Kirgisistan und eine Nacht im Hotel in Bischkek. Gleich geht es zurück, noch einmal zwei Tage.

Einmal im Monat macht Deja, 47, diese Tour. Ihren vollen Namen möchte sie nicht nennen, denn da ist ja noch die Grenze. 50 Kilo darf man unverzollt mitnehmen. Wer mehr hat, teilt die Ware entweder auf mehrere der vielen Schmuggler auf, die am Grenzübergang warten. Oder er zahlt. "Zoll?", Deja lacht. "Das ist doch kein Zoll, das ist Bestechung."

Am Rand der kirgisischen Hauptstadt liegt der größte Containermarkt Zentralasiens und einer der größten Märkte der Welt. 60 000 Menschen sind damit beschäftigt, Waren aus chinesischen Fabriken herzuschaffen, auszupacken, weiter zu verkaufen, neu zu verpacken, sie über die Grenze zu bringen und weiter zu den Kunden in Kasachstan, Russland und in der ganzen ehemaligen Sowjetunion.

Der Dordoi-Markt entstand, als das kommunistische Imperium zusammenbrach und alte Handelswege wiederbelebt wurden. Zwei Jahrzehnte lang hat Kirgisistan davon gelebt, ein armer Staat, der außer einer Goldmine und etwas Landwirtschaft sonst keine Einnahmen generiert. Die Regierung hat die Einfuhrzölle aus China radikal gesenkt, die Zölle zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken waren ebenfalls niedrig. So wurde Kirgisistan zum Zentrum, über das sich der Handel zwischen China und fast 200 Millionen Verbrauchern auf dem Kontinent drehte. Die Maschinen aus den eigenen Fabriken wurden in dieser Zeit als Altmetall verkauft.

Seit 2011 laufen die Geschäfte schlecht

Doch seit drei Jahren läuft das Geschäft immer schlechter. Damals, 2011, gründeten Russland, Kasachstan und Weißrussland 2011 die eurasische Zollunion. Im gleichen Maße, wie die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedern für Handel und Dienstleistungen geöffnet wurden, schlossen sich die Außengrenzen. Seither funktioniert Kirgisistans Modell der Reexport-Wirtschaft nicht mehr.

"In den letzten drei Jahren ist der Handel stark gefallen", sagt Elena Kadyrkulowa. Die Frau eines Offiziers begann vor zwanzig Jahren damit, Hosen aus China zu importieren und auf dem Dordoi anzubieten. In guten Zeiten habe sie im Quartal 50 000 Stück verkauft, erzählt sie. Jetzt seien es vielleicht noch 5000. Seit die Zollunion den Import beschränkt, hat sich das Geschäft auf dem Dordoi vom Groß- zum Einzelhandel gewandelt. Das ist aufwendiger und weniger einträglich. "Anfangs waren wir alle gegen den Beitritt", sagt die 53-Jährige, "aber die Zeit hat gezeigt, dass wir beitreten müssen."

Während ein Streit um die Zugehörigkeit zu Wirtschaftszonen an Russlands Westgrenze zu einem blutigen Konflikt geführt hat, konkurriert Russland in Zentralasien mit China um Einfluss. Der Westen ist fast aus dem Spiel. Im vergangenen Jahr hat Gazprom das kirgisische Erdgasnetz aufgekauft - für einen symbolischen Dollar und das Versprechen, in die maroden Leitungen zu investieren. Für den Beitritt zur Zollunion belohnt Moskau Präsident Almasbek Atambajew mit einem Fonds für günstige Kleinkredite, der mit einer Milliarde Dollar ausgestattet werden soll, immerhin fast ein Sechstel des kirgisischen Bruttoinlandsprodukts.

Die Vorbereitung des Beitritts liegt in den Händen von Danil Ibrajew. Der stellvertretende Wirtschaftsminister ist ein junger Politiker mit Bürstenschnitt und dunklem Anzug. "Für uns ist die Zollunion ein rein wirtschaftliches Projekt", betont er. Sie existiere nun einmal und lege eigene Standards fest. "Was, wenn wir nicht beitreten? Dann fallen 90 Prozent unseres Marktes weg."

Ja, Russland erwerbe gezielt strategische Objekte. "Aber für uns ist es wichtiger, dass die Pipelines gefüllt sind, als wem sie gehören." Auch wegen der vielen Gastarbeiter, die ihr Geld aus Russland in die Heimat überweisen, ist Bischkek von Moskau abhängig. 500 000 bis eine Million von ihnen sollen es nach unterschiedlichen Schätzungen sein, bei einem Volk von fünf Millionen. "Wir hoffen, dass sich ihr legaler Status in Russland durch den Beitritt zur Zollunion verbessert", sagt Ibrajew.

Die einzige parlamentarische Demokratie in Zentralasien ist in Gefahr

Nach zwei Revolutionen 2005 und 2010 hat sich Kirgisistan ein parlamentarisches System gegeben, das einzige in Zentralasien. Das brachte dem Land seinen Ruf als "Insel der Demokratie" ein, die viele durch den wachsenden russischen Einfluss gefährdet sehen.

Natürlich hätten sich in Moskau und der kasachischen Hauptstadt Astana einige erschreckt, als in Bischkek eine parlamentarische Demokratie entstanden ist, sagt Valerij Dill. Der 61-Jährige mit deutschen Vorfahren ist seit sieben Monaten Vizepremier in der kirgisischen Regierung. Er war schon Abgeordneter, als sich Kirgisistan 1991 von der Sowjetunion unabhängig erklärte. "Und unsere Unabhängigkeit geben wir nie wieder ab", sagt er.

Derlei Beteuerungen hört man oft, wenn man mit Politikern in Bischkek spricht. Es klingt ein bisschen, als wollten sie sich selbst Mut machen. Denn im nächsten Satz kommt meistens: Wir haben gar keine andere Wahl, als der Zollunion beizutreten. Der Binnenmarkt mit fünf Millionen Verbrauchern sei einfach zu klein, als dass sich eine eigene Produktion entwickeln könne. Das alte Modell mit dem Transithandel ist am Ende. 2013 wuchs die Wirtschaft in Kirgisistan noch um zehn Prozent. "In diesem Jahr erwarten wir noch vier Prozent." Andere Partner stünden dem Land nun einmal nicht zur Verfügung: "Unsere Nachbarn sind Usbekistan, Tadschikistan, China und Kasachstan."

Der kirgisische Politologe Mars Sarijew glaubt, die Ukraine sei nur der aktuelle Schauplatz im Ringen um Einflusssphären, "als Nächstes wird Zentralasien in den Fokus rücken". Sein Land habe in dieser Situation nur die Wahl, zu einer chinesischen Provinz zu werden, sich enger an Russland zu binden, oder der "Gruppe der Instabilen" anzugehören, gemeint sind Afghanistan und Pakistan. "Wir verlieren die Möglichkeit zu manövrieren. Die Zeit ist abgelaufen. Russland hat Bedingungen geschaffen, unter denen uns keine andere Wahl bleibt."

Ausgerechnet Weißrussland und Kasachstan

Als Garanten gegen eine russische Dominanz in der Eurasischen Wirtschaftsunion sieht der Politologe ausgerechnet die Autokratien Weißrussland und Kasachstan. Deren Präsidenten Alexander Lukaschenko und Nursultan Nasarbajew hatten zuletzt die hegemonialen Allüren Wladimir Putins kritisiert. Doch das ändert nichts an Sarijews Fazit: "Der Westen ist auf dem Rückzug."

Das sieht auch die scheidende amerikanische Botschafterin Pamela Spratlen so. In deutlichen Worten warnte die Diplomatin im Oktober, die engere Bindung an Russland könne die demokratischen Fortschritte gefährden. Angesichts enormer wirtschaftlicher Probleme suche Präsident Atambajew Hilfe bei Moskau. Das habe bereits dazu geführt, dass die US-Army im Sommer ihre Präsenz am Flughafen Manas aufgeben musste, die als Stützpunkt für die Afghanistan-Mission gedient hatte. Russland unterhält derweil weiter eine Luftwaffenbasis nahe der kirgisischen Hauptstadt.

Zwar habe die kirgisische Zivilgesellschaft tiefe Wurzeln geschlagen und sei "gut organisiert, um demokratische Errungenschaften zu verteidigen". Doch die Herausforderungen seien enorm: "Die einzige Demokratie in Zentralasien bleibt fragil angesichts von Unterentwicklung, schwacher Regierung, fehlendem Rechtsstaat, Korruption, Problemen bei den Menschenrechten und Druck von außen."

Der Appell richtete sich auch an die eigene Regierung in Washington. Nach dem Ende der Afghanistan-Mission fragten sich einige, warum man ein entlegenes Land mit fünf Millionen Einwohnern unterstützen solle, so Spratlen. Doch wenn Kirgisistan nicht mehr als "ein Faustpfand in Russlands Great Game" sei, könnten andere daraus den Schluss ziehen, dass Demokratie in Zentralasien keine Zukunft habe.

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