Bürger-Proteste in Ferguson:"Sie erschießen unsere Kinder in den Straßen"

Bürger-Proteste in Ferguson: Hitzige Stimmung in der "Ferguson Commission": Eine Frau prangert das Verhalten der Polizei gegenüber schwarzen Jugendlichen an.

Hitzige Stimmung in der "Ferguson Commission": Eine Frau prangert das Verhalten der Polizei gegenüber schwarzen Jugendlichen an.

(Foto: AP)

Eigentlich soll die "Ferguson Commission" Ideen entwickeln, damit ein "Fall Mike Brown" nicht mehr vorkommt. Doch die Schwarzen in der Stadt fühlen sich noch immer nicht ernst genommen und von der Polizei bedroht. Bei der Bürgerversammlung in einer Turnhalle gibt es heftige Tumulte.

Eine Reportage von Matthias Kolb, Ferguson

Nach dreieinhalb Stunden hält es Dell Taylor nicht mehr aus. "Wir leiden und ihr habt keinen Respekt für uns", ruft die sechsfache Mutter den Mitgliedern der Ferguson-Kommission zu. Die Afroamerikanerin redet sich in Rage: "Sie erschießen unsere Kinder in den Straßen und ihr redet über euch selbst." Neben ihr springen andere Bürger auf: "Ihr wisst nicht, welche Probleme wir in Ferguson haben."

40 Minuten lang versucht Starsky Wilson vergeblich, die Lage zu beruhigen. Der schwarze Pastor ist einer der beiden Chefs der neuen Kommission, die an diesem Montagmittag in einer Turnhalle in Ferguson erstmals zusammenkommt. Zuvor hatten sich die 14 Mitglieder - sieben weiß, sieben schwarz - ausführlich vorgestellt, ihre Hoffnungen geäußert und über die Grundprinzipien ihrer Arbeit debattiert. Doch das sind nicht die Themen, über die viele Menschen fast vier Monate nach den tödlichen Schüssen auf den schwarzen Teenager Michael Brown sprechen wollen. Sie fühlen sich chancenlos, von der Polizei schikaniert und von ihren Politikern im Stich gelassen.

"Ich brauche Hilfe. Ich habe zwanzig Jahre ein Antiquitätengeschäft in Ferguson geführt und das ist abgebrannt. All meine Ersparnisse stecken in dem Laden", klagt Jeniece Andrews. Niemand, weder von der Stadt noch vom Bundesstaat Missouri, habe sich seither bei ihr gemeldet, weshalb sie nun im Internet Geld sammele, um ihre Kinder ernähren zu können.

Andrews' Laden "Hidden Treasures" ging in Flammen auf, nachdem bekannt wurde, dass der weiße Polizist Darren Wilson nicht angeklagt wird, obwohl er zwölf Mal auf Brown geschossen hatte. Die Tumulte bei der Bürgerversammlung zeigen, wie groß das Entsetzen der Schwarzen in Ferguson über diese Entscheidung weiterhin ist - und dass die Region St. Louis von Normalität meilenweit entfernt ist.

"Zeigt uns, dass ihr anders seid"

Dabei hatte Gouverneur Jay Nixon die Kommission eingesetzt, um die Lage zu beruhigen. Ihre Mitglieder (mehr über deren Biografien hier) sollen die "sozialen und wirtschaftlichen Gründe" untersuchen, die gesellschaftlichen "Fortschritt, Gleichheit und Sicherheit" erschweren, heißt es in Nixons Erlass. Mitte September 2015 sollen sie einen Bericht mit Empfehlungen vorlegen.

Doch allein die Verbindung zu Nixon macht viele Bürger misstrauisch. Viele nehmen dem Demokraten übel, dass die von ihm gerufene Nationalgarde nicht die kleinen Geschäfte vor der Zerstörung gerettet hat und noch immer Dutzende Humvee-Militärfahrzeuge durch die Kleinstadt fahren. "Zeigt uns, dass ihr anders seid und hört uns zu", ruft ein schwarzer Army-Veteran. Erst als Kommissionschef Wilson versichert, dass der Programmpunkt "Anliegen der Community" vorgezogen wird, beruhigt sich die Lage. Tische werden zur Seite geschoben, die Mitglieder setzen sich direkt vor das Publikum und endlich haben die Bürger das Wort.

Regungslos hört der weiße Sergeant Kevin Ahlbrand, der einzige aktive Polizist in der Kommission, wie es mehr als zwei Stunden vor allem um eines geht: die Schikanen der Polizisten. Da ist die junge Afroamerikanerin, die in New York aufwuchs: "Ich erlebe hier einen Rassismus, den ich nicht kannte. Liebe Weiße, fragt irgendeinen Schwarzen in St. Louis, ob er sich durch die Polizei geschützt fühlt - und er wird mit 'Nein' antworten." Es folgt der Familienvater, der sich stets ans Tempolimit hält: "Die Gehälter der Polizisten werden durch meine Steuern bezahlt und trotzdem wird mein Auto ständig auf Drogen durchsucht. Das ist erniedrigend."

Wie Gemeinden mit Strafzetteln ihren Haushalt aufbessern

Später stellt eine schwarze Studentin die Frage: "Warum müssen die Polizisten nicht dort leben, wo sie Streife fahren? Sie kennen die Gemeinde gar nicht." Eine alleinerziehende Mutter hofft, dass ihr 16-jähriger Sohn nie den Führerschein mache: "Sobald er als schwarzer Mann Auto fährt, wird er zur Zielscheibe."

Bürger-Proteste in Ferguson: Ein Einwohner Fergusons beschwert sich, dass die Belange der schwarzen Community viel zu wenig gehört werden.

Ein Einwohner Fergusons beschwert sich, dass die Belange der schwarzen Community viel zu wenig gehört werden.

(Foto: AP)

Sie alle beschreiben, was rund um St. Louis jeder weiß: In Ferguson und dem Nachbarort Florissant erteilen Polizisten gerade im Straßenverkehr Unmengen von Strafzetteln, um die Gemeindekassen zu füllen (mehr bei der Washington Post). 2013 verhängte das örtliche Gericht in Ferguson 24 532 Strafzahlungen, die sich auf 2 635 400 Dollar summierten. Das ist die zweitgrößte Einnahmequelle für den Haushalt - und entspricht 1,5 Fällen pro Einwohner in dieser relativ armen Kleinstadt. Und wer die relativ hohen Strafen nicht bezahlen kann, der landet schnell im Gefängnis.

Doch es treten auch mehrere Weiße aus Ferguson und Umgebung ans Mikrofon. Sie fordern mehr Geld für Bildung und äußern ihr Unbehagen über die Polizei. Mit Tränen in den Augen stellt Ashley Bernaugh eine Frage, die viele umtreibt: "Wie kann es sein, dass ein toter Teenager viereinhalb Stunden im eigenen Blut liegt und die Polizei seine Mutter daran hindert, zu ihm zu gehen?"

Wieder Protestaktionen in vielen US-Städten

Die Art, wie Michael Brown am 9. August am helllichten Tage starb, wird immer mehr zum Symbol für die Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt. Auch an diesem Montag zeigen Tausende Amerikaner ihre Solidarität, laufen bei der landesweiten Aktion "Hands up, Walk out" auf Straßen und Plätze und veranstalten sogenannte "Die-ins". Studenten der Harvard-Universität blockieren den Verkehr in Cambridge, indem sie sich viereinhalb Minuten auf dem Boden legen. Gleiches geschieht in Los Angeles, St. Louis, auf dem Times Square in New York und vor dem Justizministerium in Washington.

In der US-Hauptstadt berät US-Präsident Barack Obama gleichzeitig darüber, wie sich die Beziehungen zwischen der Polizei und den Bürgern verbessern lassen. Auch auf nationaler Ebene wird also eine Task-Force eingesetzt, die in drei Monaten einen Bericht vorlegen soll. Zudem will Obama den Einsatz von Körperkameras bei Polizisten fördern. Für die Anschaffung dieser Geräte sollen in den kommenden drei Jahren etwa 60 Millionen Euro bereitgestellt werden. Der Präsident trifft sich am Nachmittag auch mit Bürgerrechtlern und Aktivisten. Diese berichten ihm, wie viele junge Menschen sich "an den Rand gedrängt" fühlten, obwohl sie alles richtig gemacht hätten.

Zwei Mitglieder der Ferguson-Kommission zu Gast bei Obama

Obamas Einladung ist der Grund, wieso die beiden jüngsten Teilnehmer der Ferguson-Kommission nicht in der Turnhalle in Ferguson sitzen. Die Lehrerin Brittany Packnett und der Aktivist Rasheen Aldridge gehören neben der Pastorin Traci Blackmon zu jenen Mitglieder der Kommission, die seit dem 9. August protestiert haben und von den Afroamerikanern in Ferguson akzeptiert werden.

Wenn sie bei der Auftaktsitzung dabei gewesen wären, hätte sich die Wut mancher Bürger und Aktivisten wohl nicht so explosionsartig entladen. In der mehr als sechsstündigen Diskussion kommt kein Zweifel auf, dass es den Kommissionsmitgliedern an Einsatz und guten Willen mangelt. Der langwierige Beginn ist auch dem Wunsch nach Transparenz geschuldet: Alle Dokumente werden öffentlich zugänglich sein und fast alles, was die Kommission macht, wird live im Internet übertragen.

Doch gerade die sieben Weißen müssen erst beweisen, dass sie zuhören können und den Alltag der Schwarzen rund um St. Louis verstehen. Ähnliches gilt für jene Afroamerikaner - fast alle mit Hochschulabschluss -, die bisher nicht protestiert haben oder in Ferguson waren. "Die Leute dort sehen euch nicht als ihre Nachbarn an. Ihr müsst erst das Vertrauen erarbeiten und das geht nicht mit einer Veranstaltung", ruft Charles Wade.

Der Aktivist Wade ist Mitte August von Washington nach Missouri gezogen, um die Protestbewegung zu unterstützen. Die Realität von Ferguson, das seien die Gespräche im Bus oder auf dem Parkplatz vor dem Billig-Supermarkt, so Wade: "Doch genau da seid ihr nie." Das Problem sei, dass jeder über Ferguson rede - aber nicht mit den Menschen aus Ferguson. Wer diese Gemeinde kenne, der wisse auch, dass er eine solche Veranstaltung nicht zwischen 12 und 17 Uhr abhalten könne: "Die Leute arbeiten zu dieser Zeit und keiner von ihnen kann sich freinehmen, weil sie das Geld brauchen. Sie hangeln sich von Monat zu Monat durch."

Die Aussagen von mehreren Kommissionsmitgliedern lassen aber erahnen, dass sie bereit sind, in Amerikas Abgründe zu blicken und die strukturelle Benachteiligung von Afroamerikanern offen anzusprechen. "Ferguson ist überall", sagt Pastorin Travi Blackmon, die wie alle ihre Kollegen weiß, dass das Land auf das Gremium blickt. Sie sei in Alabama geboren und werde alles dafür tun, dass auch unangenehme Fragen gestellt werden: "Nur wenn es uns schmerzt, die Wahrheit über Rassismus zu sagen, kommen wir weiter."

Die Afroamerikanerin begründet ihre Entscheidung, sich in der Kommission zu engagieren, auch mit der Tatsache, dass sie zwei Söhne habe. Ähnlich äußert sich auch Pastor Starsky Wilson, der Mitvorsitzende der Kommission: "Mein neunjähriger Sohn kriegt Bauchweh, wenn er den Namen Michael Brown hört." Dieser wisse aber noch nicht, dass dies eine Folge des Traumas sei, das alle in Ferguson erlebt hätten. Darüber offen zu sprechen, so Wilsons Überzeugung, sei die einzige Lösung.

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