Urmenschen:Homo erectus, ein Künstler?

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Auf dieser Muschelschale fanden die Forscher verräterische Kratzer (Foto: Wim Lustenhouwer, VU University)

Eine 500 000 Jahre alte Muschel mit Kratzern, gefunden im Schlick. Was machen Forscher daraus? "Die früheste abstrakte Dekoration" eines künstlerisch begabten Urmenschen. Die Deutung verrät wohl mehr über die Forscher als über ihre Studienobjekte.

Kommentar von Patrick Illinger

Ein paar Ritzen auf einer Muschelschale versetzen derzeit die Zunft der Paläoanthropologen in Aufruhr. Eine Zickzacklinie, je nach Betrachtungswinkel ein kursives M oder ein verlängertes Z, ist nach Ansicht der Entdecker des Artefakts der Beweis dafür, dass mindestens 300 000 Jahre vor der Entstehung des modernen Menschen (Homo sapiens) einer seiner Vorfahren (Homo erectus) bereits einen, sagen wir, gewissen Gestaltungsdrang in sich trug. Ach was, das wird den elegischen Äußerungen nicht gerecht. Von einem Künstler der Urzeit ist bereits die Rede, von der "frühesten abstrakten Dekoration der Welt", von einem bereits vor 500 000 Jahren vorhandenen "Sinn für Ästhetik". Affen tun so etwas nicht, erklärt ein Psychologe, und ein US-Neurowissenschaftler spricht allen Ernstes von "Arbeiten eines Verstandes, der nicht länger nur im Hier und Jetzt verhaftet ist, sondern fähig zu einer einzigartig abstrakten Form von Bewusstseinswanderungen".

Die Verzierungen sehen aus wie ein M oder Z - doch sind sie bereits Beweis für abstrakte Gedankengänge? (Foto: Wim Lustenhouwer, VU University)

Noch mal: Es geht um ein paar Kratzer auf einer Muschelschale. Ein Fossil, das vor gut 120 Jahren in Indonesien gefunden wurde und seither in einem niederländischen Museum lag. Die Begeisterung der Forscher lässt indes schon fast vermuten, bald werde auch das Smartphone gefunden, mit dem Homo erectus telefonierte, während er, in das Gespräch vertieft, gedankenverloren auf der Muschelschale herumritzte.

Es geht nur um ein paar Kratzer auf einer Muschelschale

Das die - zweifellos interessante - Entdeckung begleitende Getöse ist wieder einmal Zeugnis für erstaunliche Emotionen in den vermeintlich so nüchternen Naturwissenschaften. Dass besonders Paläoanthropologen gern große Gefühle an den Tag legen, ist bekannt, und vielleicht kein Wunder, wenn man aus den generell spärlichen Fundstücken weitreichende Schlüsse über den Prozess der Menschwerdung ziehen muss. Aber es lässt ahnen, dass auch in anderen Bereichen mit dem human factor geforscht und entdeckt wird. Womöglich sogar in der Physik, wo man ebenfalls auf der Basis kleiner Signale große Schlüsse etwa über die Entstehung des Universums ableitet. Die Schwierigkeiten der Urmenschen-Forschung beschrieb ein großer Paläoanthropologe einmal so: Es sei, als wolle man anhand eines ausgebuddelten Schuhs von Karl dem Großen und einer Cola-Dose den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit erklären. Den Muschelschalen-Exegeten sei daher geraten, die Kirche vorerst noch im Dorf zu lassen, oder in diesem Fall passender: die Muschel im Schlick.

© SZ vom 06.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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