Marseille:Empörung über gelben Obdachlosen-Ausweis

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Das Dreieck an der Brust eines Obdachlosen in Marseille. Nicht nur er hält es für diskriminierend.

(Foto: Anne-Christine Poujoulat/AFP)
  • Marseilles Vize-Bürgermeister und ein Sozialaktivist wollen Obdachlosen in Marseille einen "Gesundheitsausweis" geben. Im Notfall sollen Rettungskräfte dort lebensrettende Informationen finden.
  • Doch das Dokument enthält auf der Vorderseite ein auffälliges gelbes Dreieck und erinnert an den Judenstern.
  • Die Initiatoren wollen an ihrer "guten Idee" aber prinzipiell festhalten.

Von Christian Wernicke, Paris

Der Vize-Bürgermeister gibt sich "schockiert". Er sei, beteuert Xavier Méry, "zutiefst empört über diese absurde Polemik", die wie ein Mistral hereingebrochen ist über sein geliebtes Marseille. Der Lokalpolitiker schwört, er habe nur helfen wollen. Genauso wie die Gutmenschen von der "Samu Social", deren freiwillige Retter und Sozialaktivisten sich seit Jahr und Tag kümmern um all die armen Seelen in der Metropole am Mittelmeer. Also auch um die SDF ("sans domicile fixe"), wie die Franzosen ihre Obdachlosen nennen.

Marseilles Samu-Direktor René Giancarli war es, der die Idee hatte mit dem "Gesundheitsausweis". Jeder Obdachlose, so Giancarli, solle eine etwa handgroße Karte bekommen und möglichst gut sichtbar tragen - am Anorak, am Rucksack oder irgendwo an der Hose. Auf dem Karton werde alles vermerkt, was Helfer notfalls wissen sollten: Name und Vorname des Clochards, seine Sozialversicherungsnummer, seine Allergien und chronischen Krankheiten.

"Ein Gipfel der Dummheit"

Und damit jedermann die Karte auch schnell erkennt, prangte darauf ein großes, leuchtend gelbes Dreieck. Mit einem dicken Ausrufezeichen mittendrin, das sich bei genauem Hinsehen als ein Thermometer entpuppt. Die Farbe Gelb und das Thermometer, so belehrt Giancarli, seien schließlich "überall auf der Welt" die Symbole der Lebensretter.

1500 Exemplare ließen Samu und Stadt drucken. 300 waren verteilt - da brach jener Sturm der Entrüstung los, der Xavier Méry, den Vize-Bürgermeister, so schockiert. Reihenweise warnten Sozialpolitiker, der Ausweis mit dem gelben Dreieck "diskriminiert und stigmatisiert eine Minderheit". Ärzte nannten Marseilles SDF-Pass "einen Gipfel der Dummheit", und die Liga für Menschenrechte warnte, das Emblem "erinnert zwangsläufig an den gelben Stern, den Juden tragen mussten" während der Besetzung Frankreichs durch deutsche Nazi-Truppen.

Am Mittwoch zogen 150 Demonstranten vors Rathaus von Marseille, auf Plakaten führten sie der Stadtverwaltung die Ähnlichkeit von Judenstern und SDF-Dreieck bildhaft vor Augen. Sogar Marisol Touraine, die Gesundheitsministerin der Nation, mischte sich ein: Die Sozialistin geißelte den Ausweis als "inakzeptabel" und verlangte, die Maßnahme unverzüglich einzustellen.

Das gelbe Dreieck bleibt

Die Verantwortlichen geben sich betroffen. Und trotzig. Hilfsbürgermeister Méry, der der konservativen Oppositionspartei UMP angehört, ist indigniert ob des Vergleichs "mit den düstersten Kapiteln unserer Geschichte". Und Samu-Chef Giancarli beteuert, an den Judenstern habe er "niemals gedacht". Er habe seinen Clochards "doch nur einen Namen, nur eine Identität" geben wollen. Giancarli erzählt, wie er vor Jahren einmal einen toten SDF auf der Straße gefunden habe, und dass damals Monate vergangen seien, ehe man den Leichnam habe identifizieren und begraben können. Auch deshalb ist Marseilles Ober-Samu sicher, dass - sobald der Wirbel abgeklungen sei - sich seine "gute Idee" noch durchsetzen wird: "Sie werden sehen, bald wollen alle die Karte haben."

Immerhin, Stadt und Samu Social wollen nachbessern. Auch Sozialarbeiter und freiwillige Helfer aus den Reihen der Samu Social hatten Datenschutz-Bedenken angemeldet. Deshalb wird ein neuer Ausweis gedruckt, ohne Hinweis aus der Krankenakte. Für die Stadt hat Xavier Méry klargestellt, die Karte sei "eben eine Karte, also kein Badge, den man sichtbar tragen muss". Im wichtigsten Punkt aber zeigt Marseille sich stur: Das gelbe Dreieck bleibt, und es soll weiterhin leuchten wie ein Stern.

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